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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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bereits eine spitzfindige Bemerkung auf der Zunge, dass er nach seiner Boa Constrictor suche, schluckte sie jedoch herunter. Jedenfalls hatte er ein paar Sachen gesehen. Zwei Betten. Das eine mit einem zerknitterten Laken und einer Decke, die zur Seite geworfen war, als hätte es jemand hastig verlassen.
    Das andre war vom Fußende bis zum Kopfkissen von einer dicken, dunkelgrauen Decke bedeckt. Die Holzplanke am Kopfende des Betts war rußgeschwärzt. Unter der Decke sah man die Konturen eines unfassbar schmalen Menschen. Kopf, Brustkorb, Becken waren das Einzige, was sich deutlich ausmachen ließ. Der Rest hätte ebenso gut Falten, Unebenheiten in der Decke sein können.
    Morgan rieb sich die Augen so fest, dass er die Augäpfel einige Zentimeter in seinen Schädel zu pressen schien. Es ist wahr. Es ist verdammt nochmal wahr.
    Er schaute sich im Korridor um, suchte nach jemandem, an dem er seine Verwirrung auslassen konnte, und erblickte einen älteren Mann, der auf einen Rollator gestützt und mit einem Infusionsständer auf Rädern neben sich in das Zimmer hineinzuschauen versuchte. Morgan machte einen Schritt auf ihn zu.
    »Was stehst du hier rum und glotzt, du verdammter Idiot? Soll ich dir den Rollator wegziehen, oder was?«
    Der Mann zog sich in Zehnzentimeterschritten zurück. Morgan ballte die Fäuste, bezähmte sich. Dann erinnerte er sich, dass er etwas in dem Zimmer gesehen hatte, machte abrupt kehrt und ging zurück.
    Der Mann, der ihn eben angesprochen hatte, wollte gerade das Zimmer verlassen.
    »Sie müssen wirklich entschuldigen, aber …«
    »Ja, ja …« Morgan schob ihn zur Seite, »… ich will doch nur die Kleider meines Freunds holen, wenn das okay ist. Oder finden Sie, er soll da draußen den ganzen Tag als Aktfigur hocken?«
    Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust, ließ Morgan vorbei, der Lackes Kleider von dem Stuhl neben dem ungemachten Bett aufsammelte, einen Blick auf das andere Bett warf. Eine schwarz verkohlte Hand mit gespreizten Fingern ragte unter der Decke hervor. Die Hand war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt; für den Ring an ihrem Mittelfinger galt dies jedoch nicht. Ein goldfarbener Ring mit einem blauen Stein, Virginias Ring. Ehe Morgan sich umwandte, konnte er noch erkennen, dass über das Handgelenk ein Lederriemen gespannt war.
    Der Mann stand noch mit verschränkten Armen in der Tür.
    »Zufrieden?«
    »Nein. Warum zum Teufel ist sie festgeschnallt?«
    Der Mann schüttelte den Kopf.
    »Sie können Ihrem Kumpel ausrichten, dass die Polizei jeden Moment kommt und sich vermutlich mit ihm unterhalten will.«
    »Und warum?«
    »Das weiß ich nicht. Ich bin kein Polizist.«
    »Ach nein. Das hätte man aber beinahe glauben können.«
    Im Korridor halfen sie sich gegenseitig, Lacke anzuziehen, und waren gerade fertig geworden, als zwei Polizeikommissare eintrafen. Lacke war nicht ansprechbar, aber die Krankenschwester, die vorhin die Jalousien hochgezogen hatte, war geistesgegenwärtig genug, um bestätigen zu können, dass Lacke mit dem Ganzen nichts zu tun gehabt hatte. Dass er noch geschlafen hatte, als es … anfing.
    Sie wurde von ihren Kollegen getröstet. Larry und Morgan brachten Lacke aus dem Krankenhaus.
    Als sie die Drehtüren hinter sich gelassen hatten, atmete Morgan die kalte Luft tief ein und sagte: »Tja, ich muss mal eine Runde reihern«, beugte sich über die Blumenbeete und spuckte die mit grünem Schleim vermischten Reste des gestrigen Abendessens auf die unbelaubten Sträucher.
    Als er fertig war, strich er sich über den Mund und wischte die Hand an seiner Hose ab. Daraufhin hielt er die Hand hoch, als wäre sie Beweismaterial, und sagte zu Larry:
    »Jetzt musst du verdammt nochmal was springen lassen.«
     
    Sie fuhren nach Blackeberg, und Morgan bekam hundertfünfzig Kronen, um dafür Schnaps einkaufen zu gehen, während Larry Lacke in seine Wohnung mitnahm.
    Lacke ließ sich führen. Während der Bahnfahrt hatte er keinen Ton gesagt.
    Im Aufzug zu Larrys Wohnung in der sechsten Etage begann er zu weinen. Nicht still und leise, nein, er flennte wie ein Kind, nur schlimmer, mehr. Als Larry die Aufzugtür öffnete und ihn ins Treppenhaus hinausschob, wurden seine Schreie lauter, hallten zwischen den Betonwänden wider. Lackes Schreie ursprünglicher, bodenloser Trauer schallten durch alle Etagen des Treppenhauses, strömten durch Briefschlitze, Schlüssellöcher, verwandelten das Hochhaus in eine Gruft, die über Liebe und Hoffnung errichtet wurde.

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