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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Larry erschauderte; etwas Vergleichbares hatte er noch nie gehört. So weinte man nicht. So durfte man nicht weinen. Man starb, wenn man so weinte.
    Die Nachbarn. Sie werden glauben, ich bringe ihn um.
    Larry fingerte an seinem Schlüsselbund herum, während alles menschliche Leiden, Jahrtausende der Ohnmacht und Enttäuschungen, die in diesem Moment einen Kanal in Lackes gebrechlichen Körper gefunden hatten, weiter aus ihm herausschossen.
    Der Schlüssel fand ins Schloss, und mit einer Kraftanstrengung, die er sich gar nicht zugetraut hätte, trug Larry Lacke in die Wohnung und schloss die Tür. Lacke schrie weiter, die Luft schien ihm niemals ausgehen zu wollen. Larry brach der Schweiß aus.
    Was zum Teufel soll ich … soll ich …
    In Panik tat er, was er in Filmen gesehen hatte. Mit der flachen Hand versetzt er Lacke eine Ohrfeige, erschrak über das scharfe Klatschen und bereute es sofort wieder. Aber es funktionierte.
    Lacke verstummte abrupt, starrte Larry mit wirren Augen an, sodass Larry glaubte, nun selber eine gelangt zu bekommen. Dann aber wurde der Ausdruck in Lackes Augen sanfter, er öffnete und schloss den Mund, als würde er nach Luft schnappen, und sagte: »Larry, ich …«
    Larry legte die Arme um ihn, und Lacke lehnte seine Wange auf Larrys Schulter und weinte, dass er sich schüttelte. Nach einer Weile gaben Larrys Beine allmählich nach. Er versuchte sich aus der Umarmung zu lösen, um sich auf den Stuhl im Flur zu setzen, aber Lacke klammerte sich an ihn und folgte nach. Larry landete auf dem Stuhl, und Lackes Beine wurden unter ihm eingeklappt, sein Kopf glitt auf Larrys Schoß hinab.
    Larry strich ihm über die Haare, wusste nicht, was er sagen sollte, flüsterte nur:
    »Ist ja gut … ist ja gut …«
     
    Larrys Beine schliefen langsam ein, als sich etwas veränderte. Die Tränen waren versiegt, einem stillen Wimmern gewichen, als er spürte, wie sich Lackes Kiefer auf dem Oberschenkel anspannten. Lacke hob den Kopf, wischte mit dem Hemdsärmel Rotz ab und sagte: »Ich werde es töten.«
    »Wen?«
    Lacke senkte den Blick, sah durch Larrys Brust hindurch und nickte.
    »Ich werde es töten. Es darf nicht leben.«
    *
    In der großen Pause um halb zehn kamen sowohl Staffe als auch Johan zu Oskar, sagten »verdammt stark gemacht« und »Scheiße, echt klasse«. Staffe spendierte Lakritz, und Johan wollte wissen, ob Oskar Lust hatte, bei Gelegenheit mit ihm nach Pfandflaschen fragen zu gehen.
    Niemand knuffte ihn oder hielt sich die Nase zu, wenn er in die Nähe kam. Sogar Micke Siskov setzte ein Lächeln auf und nickte ermunternd, als hätte Oskar eine lustige Geschichte erzählt, als sie einander im Korridor vor dem Speisesaal begegneten.
    Als hätten alle nur darauf gewartet, dass er tun würde, was er getan hatte, und jetzt, nachdem er die Sache durchgezogen hatte, war er einer von ihnen.
    Das Problem war nur, er konnte es nicht genießen. Er konstatierte es, aber es berührte ihn nicht. Sicher, es war gut, nicht mehr geschlagen zu werden. Aber wenn jemand versucht hätte, ihn zu schlagen, hätte er zurückgeschlagen. Er gehörte nicht mehr hierher. Während der Mathestunde blickte er von seinem Buch auf und betrachtete die Klassenkameraden, mit denen er sechs Jahre zur Schule gegangen war. Sie hatten ihre Köpfe über die Aufgaben gesenkt, kauten auf Stiften herum, schickten sich Zettel, kicherten. Und er dachte: Das sind doch … Kinder.
    Und er war selber ein Kind, aber …
    Er kritzelte ein Kreuz in sein Buch, machte einen Galgen mit Schlinge daraus.
    Ich bin ein Kind, aber …
    Er zeichnete einen Zug. Ein Auto. Ein Boot.
    Ein Haus. Mit einer offenen Tür.
    Seine Unruhe wurde immer größer. Als sich die Mathestunde dem Ende zuneigte, konnte er nicht mehr stillsitzen, stampfte mit den Füßen, trommelte mit den Händen auf das Pult. Die Lehrerin bat ihn mit einem erstaunten Blick über die Schulter, still zu sein. Er versuchte es, aber kurz darauf war die Unruhe wieder da und ruckte an ihren Marionettenfäden, sodass seine Beine sich ganz von selbst bewegten.
    Als die letzte Stunde beginnen sollte, Sport, hielt er es nicht mehr aus. Im Gang sagte er zu Johan: »Sag Ávila, ich wäre krank, okay?«
    »Haust du ab?«
    »Hab keine Sportsachen dabei.«
    Das stimmte zwar; er hatte am Morgen tatsächlich seine Sportsachen vergessen, aber es war nicht der wahre Grund, warum er schwänzen musste. Auf dem Weg zur U-Bahn sah er seine Klasse aufgestellt in einer Reihe. Tomas rief ihm »buuuh«

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