So finster die Nacht
verkleidet sein mochten.
Oder aber er tat so, als wäre jedes Haus ein hungriges Tier, ein Drache mit sechs Mündern, dessen einzige Kost das als Reklamezettel getarnte Jungfernfleisch war, das er dem Drachen in den Rachen schob. Die Zettel schrien in seinen Händen, wenn er sie in den Schlund des Untiers steckte.
In den letzten beiden Stunden – wie heute, einige Zeit nach Beginn seiner zweiten Runde – stellte sich eine Art Stummheit ein. Die Beine trabten weiter, und die Arme führten ihre Bewegungen rein mechanisch aus.
Die Tüte abstellen, sich sechs Sendungen unter den linken Arm klemmen, die Eingangstür öffnen, die erste Tür, den Briefeinwurf mit der linken Hand öffnen, eine Reklamesendung in die rechte nehmen, sie einwerfen. Die zweite Tür … und so weiter.
Als er schließlich zu seiner eigenen Häuserreihe gelangte, zur Tür des Mädchens, blieb er davor stehen und lauschte. Ein Radio spielte leise. Das war alles. Er schob die Reklame in den Briefschlitz und wartete. Niemand kam, um sie aufzuheben.
Wie üblich beendete er seine Arbeit an der eigenen Wohnungstür, schob eine Reklame in den Briefschlitz, schloss die Tür auf, zog sie heraus und warf sie in den Mülleimer.
Fertig. Jetzt war er siebenundsechzig Kronen reicher.
Mama war zum Einkaufen nach Vällingby gefahren. Also hatte Oskar die Wohnung für sich allein, wusste aber nicht, was er mit ihr anstellen sollte.
Er öffnete in der Küche die Schubladen hinter der Spüle, schaute hinein. Besteck und Schneebesen und Backofenthermometer. In einer anderen Schublade Stifte und Blätter, eine Reihe von Karteikarten mit Rezepten für verschiedene Gerichte, die Mama zunächst abonniert, dann aber nicht länger bezogen hatte, weil sie alle so teure Zutaten enthielten.
Er ging ins Wohnzimmer, öffnete die Schränke.
Mamas Häkel- oder vielleicht auch Stricksachen. Eine Mappe mit Rechnungen und Quittungen. Das Fotoalbum, das er sich schon tausend Mal angesehen hatte. Alte Illustrierte mit immer noch ungelösten Kreuzworträtseln. Eine Lesebrille im Etui. Ein Nähkästchen. Eine kleine Holzkiste mit Mamas und Oskars Pass, ihren Erkennungsmarken (er hatte gebeten, seine um den Hals tragen zu dürfen, aber Mama hatte erklärt, nur im Kriegsfall), eine Fotografie und ein Ring.
Er durchforstete Schubladen und Schränke, als wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmtem, ohne zu wissen, was dies sein könnte. Ein Geheimnis. Etwas, das alles verändern würde. Zum Beispiel plötzlich, zuhinterst in einem der Schränke ein Stück faulendes Fleisch zu finden. Oder einen aufgeblasenen Ballon. Was auch immer. Etwas Fremdes.
Er holte das Foto heraus und betrachtete es.
Es war aus Anlass seiner Taufe gemacht worden. Mama hielt ihn im Arm, schaute in die Kamera. Sie war damals schlank. Oskar war in ein Taufkleid mit einem langen blauen Band gehüllt. Neben Mama stand Papa, unbequem in einen Anzug gezwängt. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte, weshalb er sie steif an den Seiten hinabstreckte, fast in Habachtstellung stand. Er blickte direkt auf das Baby in Mamas Armen. Über den dreien schien die Sonne.
Oskar hielt sich die Aufnahme näher vor die Augen, studierte Papas Gesichtsausdruck. Er sah stolz aus. Stolz und extrem … unbeholfen. Ein Mann, der sich freute, Vater geworden zu sein, aber nicht recht wusste, wie er sich jetzt verhalten sollte. Wie man das machte. Man hätte meinen können, er sähe das Baby zum ersten Mal, obwohl Oskar erst ein halbes Jahr nach seiner Geburt getauft worden war.
Mama hielt Oskar dagegen in einem sicheren, gleichzeitig jedoch auch entspannten Griff. Ihr Blick in die Kamera war weniger stolz als … argwöhnisch. Komm bloß nicht näher, sagte dieser Blick. Ich beiß dich in die Nase.
Papa stand ein wenig vorgelehnt, als würde auch er gerne näher kommen, sich aber nicht trauen. Das Bild zeigte keine Familie. Es zeigte einen Jungen und seine Mutter. Und neben den beiden einen Mann, vermutlich den Vater. Jedenfalls nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen.
Aber Oskar liebte seinen Vater, und das tat Mama auch. In gewissem Sinne. Obwohl es … war, wie es war. Wie die Dinge sich entwickelt hatten.
Oskar holte den Ring heraus und las, was auf seiner Innenseite stand: Erik 22/4/1967.
Sie hatten sich scheiden lassen, als Oskar zwei Jahre alt gewesen war. Keiner der beiden hatte einen neuen Ehepartner gefunden. »Es hat sich einfach nicht ergeben.« Sie benutzten beide die gleiche
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