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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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waren, um den Überblick zu verlieren und nicht mehr in der Lage zu sein, die Seiten einfarbig hinzubekommen. Die Einzelteile hatten zwar nicht lose gesessen, als er ihn auseinander genommen hatte, aber sie konnte doch unmöglich die Lösung gefunden haben?
    »Du musst ihn auseinander genommen haben.«
    »Nein.«
    »Du hattest ihn vorher doch noch nie gesehen.«
    »Nein. Das hat Spaß gemacht. Danke.«
    Oskar hielt den Würfel vor seine Augen, als könnte dieser ihm erzählen, wie es zugegangen war. Aus irgendeinem Grund war er sich fast sicher, dass ihn das Mädchen nicht belog.
    »Wie lange hast du dafür gebraucht?«
    »Ein paar Stunden. Jetzt würde es schneller gehen.«
    »Unglaublich.«
    »So schwer ist es überhaupt nicht.«
    Sie wandte sich zu ihm um. Ihre Pupillen waren so groß, dass sie fast die ganzen Augen ausfüllten, das Licht aus den Hauseingängen wurde von der schwarzen Fläche reflektiert, sodass es aussah, als hätte sie eine ferne Stadt in ihrem Kopf.
    Der Rollkragenpullover, am Hals weit hochgezogen, betonte ihre weichgezeichneten Züge noch zusätzlich, sodass sie aussah wie … wie eine Comicfigur. Die Haut, die Konturen waren wie ein hölzernes Buttermesser, das man wochenlang mit feinstem Sandpapier abgeschliffen hat, bis das Holz wie Seide ist.
    Oskar räusperte sich.
    »Wie alt bist du?«
    »Was schätzt du?«
    »Vierzehn, fünfzehn.«
    »Seh ich so aus?«
    »Ja, oder … nein, aber …«
    »Ich bin zwölf.«
    »Zwölf!«
    Hurra. Sie war vermutlich jünger als Oskar, der in einem Monat dreizehn wurde.
    »Wann hast du Geburtstag?«
    »Weiß nicht.«
    »Du weißt es nicht? Ja aber … an welchem Datum ist dein Geburtstag?«
    »Ich feiere ihn nicht.«
    »Aber deine Mutter und dein Vater müssen ihn doch wissen!«
    »Nein. Meine Mama ist tot.«
    »Oh. Aha. Wie ist sie gestorben?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Weiß dein … Vater das denn nicht?«
    »Nein.«
    »Aber … wie jetzt … du bekommst keine Geschenke und so?«
    Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Der Rauch ihres Atems verbreitete sich auf seinem Gesicht, und die Lichter der Stadt in ihren Augen erloschen, als sie in Oskars Schatten trat. Die Pupillen waren zwei murmelgroße Löcher in ihrem Kopf.
    Sie ist traurig. Wahnsinnig, wahnsinnig traurig.
    »Nein. Ich bekomme keine Geschenke. Nie.«
    Oskar nickte steif. Die Welt um ihn herum existierte nicht mehr. Es gab nur noch diese beiden schwarzen Löcher im Abstand eines Atemzugs. Der Rauch aus ihren Mündern vermischte sich, stieg hoch, löste sich auf.
    »Möchtest du mir ein Geschenk machen?«
    »ja.«
    Seine Stimme war nicht einmal mehr ein Flüstern. Nur ein Hauchen, das in seiner Mundhöhle geformt wurde. Das Gesicht des Mädchens war ganz nah. Oskars Blick wurde von seiner samtig zarten Wange angezogen.
    Deshalb sah er nicht, wie sich die Augen des Mädchens veränderten, schmäler wurden, einen anderen Ausdruck annahmen. Wie die Oberlippe hochgezogen wurde und zwei kleine, schmutzig weiße Reißzähne entblößte. Er sah nur die Wange, und während sich die Zähne seinem Hals näherten, hob er die Hand und strich dem Mädchen über die Wange.
    Es hielt inne, erstarrte einen Augenblick und zog sich zurück. Die Augen nahmen ihr früheres Aussehen wieder an, die Lichter der Stadt wurden von Neuem entzündet.
    »Was hast du getan?«
    »Entschuldige … ich …«
    »Was. Hast du getan?«
    »Ich …«
    Oskar sah die Hand an, die den Würfel hielt, lockerte seinen Griff um ihn. Er hatte ihn so fest umklammert, dass die Kanten dunkle Abdrücke in seiner Hand hinterlassen hatten. Er hielt dem Mädchen den Würfel hin.
    »Möchtest du ihn haben? Ich schenke ihn dir.«
    Es schüttelte sachte den Kopf.
    »Nein. Er gehört dir.«
    »Wie … heißt du?«
    »Eli.«
    »Ich heiße Oskar. Wie heißt du? Eli?«
    »… ja.«
    Das Mädchen wirkte plötzlich rastlos. Sein Blick flackerte hin und her, als suchte es nach etwas in seiner Erinnerung, nach etwas, das es nicht finden konnte.
    »Ich … muss jetzt gehen.«
    Oskar nickte. Das Mädchen sah ihm einige Sekunden unverwandt in die Augen und wandte sich dann ab, um zu gehen. Es erreichte den oberen Rand der Rutsche und zögerte kurz. Setzte sich dann und rutschte hinab, ging auf die Tür seines Hauses zu. Oskar hielt den Würfel fest in der Hand.
    »Kommst du morgen?«
    Das Mädchen blieb stehen, sagte leise Ja, ohne sich umzudrehen, ging weiter. Oskars Augen folgten ihm. Es ging nicht ins Haus, sondern zu dem Durchgang, durch den man den

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