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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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gab, an denen sie auf dem Arbeitsblatt eingezeichnet waren, aber …
    Nun ja, er würde es auswendig lernen und sich von Mama abhören lassen. Er würde auf die Punkte zeigen und die fremden Worte aussprechen können. Tschungking, Pnom Penh. Mama würde beeindruckt sein. Und sicher, diese ganzen komischen Namen an weit entfernten Orten waren schon recht spaßig, aber …
    Warum?
    Im vierten Schuljahr hatten sie Arbeitsblätter zur schwedischen Geografie bearbeitet. Damals hatte er auch alles auswendig gekonnt. War er gut darin gewesen. Aber jetzt?
    Er versuchte, sich den Namen auch nur eines schwedischen Flusses in Erinnerung zu rufen.
    Askan, Väskan, Piskan …
    So ähnlich. Ätran vielleicht. Ja. Aber wo lag dieser Fluss? Keine Ahnung. Und mit Tschungking und Rangun würde es in ein paar Jahren genauso sein.
    Alles ist sinnlos.
    Diese Orte gab es überhaupt nicht. Und selbst wenn es sie gab … er würde ja doch niemals dorthin kommen. Tschungking? Was sollte er jemals in Tschungking zu suchen haben? Die Stadt war nur eine große, weiße Fläche und ein kleiner Punkt.
    Er betrachtete die geraden Linien, auf denen seine krakelige Handschrift balancierte. Das war die Schule. Mehr war da nicht dran. Das hier war die Schule. Sie überhäuften einen mit Dingen, die man tun sollte, und man tat sie. Diese Orte waren einzig zu dem Zweck erschaffen worden, dass Lehrer ihre Arbeitsblätter austeilen konnten. Es hatte keine Bedeutung. Er hätte ebenso gut Tjippiflax, Bubbelibäng und Spitt auf die Linien schreiben können. Es wäre genauso passend gewesen.
    Der einzige Unterschied bestünde darin, dass seine Lehrerin sagen würde, es sei falsch. Es heiße anders. Sie würde auf die Karte zeigen und sagen: »Schau her, es heißt doch Tschungking, nicht Tjippiflax.« Wirklich überzeugend war das nicht. Irgendwer hatte sich doch auch einfallen lassen, was im Schulatlas stand. Nichts sagte einem, dass es real war. Vielleicht war die Erde in Wahrheit eine Scheibe, was jedoch aus irgendeinem Grund geheim gehalten wurde.
    Schiffe, die über den Rand stürzen. Drachen.
    Oskar stand vom Tisch auf. Das Arbeitsblatt war erledigt, mit Buchstaben ausgefüllt, die seine Lehrerin akzeptieren würde. Das war alles.
    Es war schon nach sieben, war das Mädchen schon herausgekommen? Er legte die Hände beschirmend um den Kopf, um in die Dunkelheit hinausspähen zu können. Bewegte sich unten auf dem Spielplatz nicht etwas?
    Er ging in den Flur hinaus. Mama saß im Wohnzimmer und strickte, oder vielleicht häkelte sie auch.
    »Ich geh noch was nach draußen.«
    »Willst du schon wieder rausgehen? Ich sollte dich doch abhören.«
    »Ja. Das machen wir dann später.«
    »Ging es nicht um Asien?«
    »Was?«
    »Bei deinem Arbeitsblatt. Da ging es doch um Asien, oder?«
    »Ja, ich glaube schon. Tschungking.«
    »Wo liegt das? In China?«
    »Weiß nicht.«
    »Du weißt es nicht? Aber …«
    »Ich komme dann gleich.«
    »Ja. Sei vorsichtig. Hast du deine Mütze?«
    »Ja, klar.«
    Oskar stopfte seine Mütze in die Jackentasche und ging hinaus. Auf halbem Weg zum Spielplatz hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er sah das Mädchen oben auf dem Klettergerüst sitzen. Er ging hin und blieb mit den Händen in den Taschen unter ihr stehen.
    Sie sah heute anders aus, trug zwar immer noch den rosa Pullover – hatte sie keinen anderen? – aber ihre Haare waren nicht mehr so verfilzt. Sie lagen glatt, schwarz, schmiegten sich an ihren Kopf.
    »Hi.«
    »Hallo.«
    »Hallo.«
    Nie wieder würde er »hi« zu jemandem sagen. Es klang so unglaublich lächerlich. Das Mädchen stand auf.
    »Komm herauf.«
    »Okay.«
    Oskar kletterte auf das Gerüst hinauf, stellte sich neben sie, sog diskret Luft durch die Nase ein. Sie roch nicht mehr schlecht.
    »Rieche ich jetzt besser?«
    Oskars Gesicht lief rot an. Das Mädchen lächelte und hielt ihm etwas hin. Seinen Würfel.
    »Danke fürs Ausleihen.«
    Oskar nahm den Würfel und betrachtete ihn, schaute noch einmal hin. Er hielt ihn ins Licht, drehte ihn und musterte alle Seiten. Das Rätsel war gelöst. Alle Seiten waren einfarbig.
    »Hast du ihn auseinander genommen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Also … ihn in Einzelteile zerlegt und … die Teile richtig zusammengesetzt.«
    »Kann man das machen?«
    Oskar tastete den Würfel ab, um zu überprüfen, ob einzelne Teile nach dem Auseinandernehmen lose saßen. Er selber hatte es einmal gemacht und sich darüber gewundert, wie wenige Drehungen erforderlich

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