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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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auftauchen. Zwei Figuren erblickte er immer sofort, wenn er hinsah. Um die anderen heraufzubeschwören, musste er sich anstrengen.
    Jetzt hatte die Wand eine andere Bedeutung bekommen. Denn jenseits der Wand, jenseits des Waldes, gab es … Eli. Oskar hatte die Hand gegen die grüne Fläche gepresst und sich vorzustellen versucht, wie es auf der anderen Seite aussah. Hatte sie dort ihr Schlafzimmer? Lag sie jetzt in ihrem Bett? Er verwandelte die Wand in Elis Wange, strich über die grünen Blätter, über ihre weiche Haut.
    Stimmen auf der anderen Seite.
    Er hörte auf, über die Tapete zu streichen, und lauschte. Eine helle und eine dunkle Stimme. Eli und ihr Vater. Es klang, als würden sie sich streiten. Er presste das Ohr gegen die Wand, um besser hören zu können. Mist. Wenn er doch nur ein Glas gehabt hätte. Er traute sich nicht aufzustehen und eines zu holen, vielleicht würden sie dann in der Zwischenzeit verstummen.
    Was sagen sie?
    Es war Elis Vater, der so wütend klang, Elis Stimme war kaum zu hören. Oskar mühte sich, Worte zu verstehen. Er hörte nur einzelne Flüche und »… schrecklich GRAUSAM«, dann rumste es, als wäre etwas umgekippt. Schlug er sie etwa? Hatte er zugesehen, als Oskar ihr über die Wange strich und … war das möglich?
    Jetzt sprach nur Eli. Von dem, was sie sagte, konnte Oskar kein Wort verstehen, er hörte nur den sanften Klang ihrer Stimme, die mal lauter, mal leiser wurde. Würde sie so reden, wenn man sie geschlagen hätte? Er durfte sie nicht schlagen. Oskar würde ihn töten, wenn er sie schlug.
    Er wünschte sich, er könnte durch die Wand vibrieren wie Flash, der Superheld. Er wollte durch die Wand verschwinden, durch den Wald und auf der anderen Seite wieder herauskommen und sehen, was dort vorging, ob Eli Hilfe oder Trost brauchte, was auch immer.
    Jetzt war es still hinter der Wand. Nur das Herz, das seine saugenden Wirbelschläge in seinem Ohr schlug, war noch zu hören.
    Er stieg aus dem Bett, ging zu seinem Tisch, kippte eine Reihe von Radiergummis aus, die in einem Plastikbecher lagen. Nahm den Becher mit ins Bett und setzte das offene Ende an die Wand, den Boden ans Ohr.
    Das Einzige, was er hörte, war ein entferntes Klappern, das mit Sicherheit nicht aus dem Nachbarzimmer kam. Was machten sie nur? Er hielt die Luft an. Plötzlich ertönte ein lauter Knall.
    Ein Pistolenschuss!
    Er hatte eine Pistole herausgesucht und – nein, die Wohnungstür war so fest zugeschlagen worden, dass die Wände wackelten.
    Er sprang aus dem Bett und trat ans Fenster. Wenige Sekunden später kam ein Mann heraus. Elis Vater. Er hatte eine Tasche in der Hand, ging mit schnellen, wütenden Schritten zum Durchgang und verschwand.
    Was soll ich tun? Ihm folgen? Aber warum?
    Er legte sich wieder ins Bett. Das war nur seine Fantasie, die hier ein bisschen zu lebhaft wurde. Eli und ihr Vater hatten sich gestritten, das taten Oskar und Mama manchmal auch. Es kam sogar vor, dass Mama einfach fortging, wenn es besonders schlimm gewesen war.
    Aber nicht mitten in der Nacht.
    Mama drohte ihm manchmal auszuziehen, wenn sie fand, dass er böse gewesen war. Oskar wusste, dass sie es niemals tun würde, und Mama wusste, dass Oskar dies wusste. Elis Vater hatte dieses Drohspiel womöglich einen Schritt weitergetrieben und war mitten in der Nacht abgehauen, mit Tasche und allem.
    Oskar lag in seinem Bett, hatte Handflächen und Stirn gegen die Wand gepresst.
    Eli, Eli. Bist du da? Hat er dir wehgetan? Bist du traurig? Eli …
    Es klopfte an Oskars Tür, und er zuckte zusammen. Für einen wahnsinnigen Augenblick glaubte er, Elis Vater sei gekommen, um sich ihn vorzuknöpfen.
    Aber es war Mama. Sie tapste in Oskars Zimmer.
    »Oskar? Schläfst du?«
    »Mmm.«
    »Ich muss schon sagen … was haben wir da bloß für Nachbarn bekommen. Hast du das gehört?«
    »Nee.«
    »Aber ja, das musst du doch gehört haben. Er hat geschrien und die Tür zugeknallt wie ein Irrer. Mein Gott. Manchmal ist man schon froh, dass man keinen Mann hat. Die arme Frau. Hast du sie mal gesehen?«
    »Nein.«
    »Ich auch nicht. Ihn übrigens auch nicht. Die Jalousien sind den ganzen Tag unten. Vermutlich Alkoholiker.«
    »Mama.«
    »Ja?«
    »Ich will jetzt schlafen.«
    »Ja, entschuldige, mein kleiner Schatz. Ich bin nur so … Gute Nacht. Schlaf gut.«
    »Mm.«
    Mama ging hinaus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Alkoholiker? Ja, das klang plausibel.
    Oskars Vater war Quartalssäufer; deshalb waren er und Mama nicht

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