Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
Vom Netzwerk:
Besseren besonnen, jetzt würde er dem Mädchen helfen. Er schob seinen linken Arm unter ihre Kniekehlen, legte den anderen Arm unter ihren Hals.
    »Okay. Jetzt hebe ich dich hoch.«
    »Mmm.«
    Sie wog fast nichts. Es war unglaublich leicht, sie anzuheben. Das konnten höchstens fünfundzwanzig Kilo sein. Vielleicht war sie ja unterernährt. Miserable Familienverhältnisse, Magersucht. Vielleicht war sie von ihrem Stiefvater misshandelt worden oder so. Es war zum Heulen.
    Das Mädchen legte die Arme um seinen Hals und lehnte seine Wange an seine Schulter. Er würde das schon packen.
    »Wie geht es dir?«
    »Gut.«
    Er lächelte. Wärme durchströmte ihn. Er war trotz allem ein guter Mensch. Er sah die Gesichter der anderen schon vor sich, wenn er das Mädchen ins Restaurant trug. Erst würden sie ihn fragen, was er jetzt wieder angestellt hatte, um anschließend mit immer größerer Hochachtung zu sagen: »Gut gemacht, Jocke«, und so weiter.
    Er machte kehrt, um zum Chinesen zu gehen, war ganz versunken in seine Fantasiebilder von einem neuen Leben, dem Aufrappeln von ganz unten, das er soeben in die Tat umsetzte, als er den Schmerz im Hals spürte. Was zum Teufel? Es fühlte sich an, als hätte ihn eine Wespe gestochen, und seine linke Hand wollte hinfassen, sie verscheuchen, nach ihr tasten. Aber er konnte ja schlecht das Kind loslassen.
    Dümmlich versuchte er den Kopf zu senken, um zu schauen, was das war, obwohl er in diesem Winkel natürlich überhaupt nichts sehen konnte. Außerdem konnte er den Kopf gar nicht senken, weil der Kiefer des Mädchens an sein Kinn gepresst lag. Ihr Griff um seinen Nacken wurde fester und der Schmerz intensiver. Jetzt verstand er.
    »Verdammt, was tust du da?«
    Am Kinn spürte er die Kiefer des Mädchen auf und ab mahlen, während der Schmerz in seinem Hals immer größer wurde. Ein warmes Rinnsal lief seine Brust hinab.
    »Scheiße, hör auf!«
    Er ließ das Mädchen los. Es war nicht einmal ein bewusster Gedanke, nur ein Reflex; ich muss diesen Mist von meinem Hals wegbekommen.
    Doch das Mädchen fiel nicht. Stattdessen nahm es seinen Nacken in einen eisernen Griff – mein Gott, war dieser kleine Körper stark! – und schlang die Beine um seine Hüften. Wie eine Hand mit vier Fingern, die sich um eine Puppe schlossen, klammerte es sich an ihn, während die Kiefer mahlten und mahlten.
    Jocke packte seinen Kopf, versuchte ihn vom eigenen Hals fortzudrücken, aber es war, als versuchte man, mit bloßen Händen einen Birkenporling vom Stamm der Birke zu reißen. Er saß wie angeleimt auf ihm. Das Mädchen umklammerte ihn jetzt so fest, dass es die Luft aus seiner Lunge presste und ihm nicht gestattete, neue einzuatmen. Er stolperte rückwärts, schnappte nach Luft.
    Die Kiefer des Mädchens mahlten nicht mehr, mittlerweile hörte man nur noch ein leises Schlürfen. Nicht einen Augenblick lockerte sich sein Griff, im Gegenteil, seit es saugte, war er sogar noch fester geworden. Ein gedämpftes Knirschen, und seine Brust wurde von Schmerz erfüllt. Mehrere Rippen waren gebrochen.
    Zum Schreien fehlte ihm die Luft. Kraftlos schlug er mit den Fäusten auf den Kopf des Mädchens ein, während er zwischen dem trockenen Laub umhertaumelte. Die Welt drehte sich. Die fernen Parklaternen tanzten wie Glühwürmchen vor seinen Augen.
    Er verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings hin. Das letzte Geräusch, das er hörte, waren einige Blätter, die unter seinem Hinterkopf zerbröselten. Eine Mikrosekunde später traf sein Kopf den Asphalt, und die Welt verschwand.
    *
    Oskar lag hellwach in seinem Bett und starrte die Tapete an.
    Er und Mama hatten die Muppets gesehen, aber er hatte kaum der Handlung folgen können. Miss Piggy war wütend gewesen, und Kermit hatte nach Gonzo gesucht. Einer der beiden alten Griesgrame war aus der Loge gefallen. Warum er gefallen war, hatte Oskar nicht mitbekommen. Er war mit seinen Gedanken woanders gewesen.
    Hinterher hatten Mama und er Kakao getrunken und Zimtschnecken gegessen. Oskar wusste noch, dass sie sich unterhalten hatten, erinnerte sich jedoch nicht mehr, worüber sie gesprochen hatten. Möglicherweise darüber, die Küchenbank blau zu streichen.
    Er starrte die Tapete an.
    Die gesamte Wand, an der sein Bett stand, wurde von einer Fototapete bedeckt, die eine Lichtung in einem großen Wald zeigte. Breite Baumstämme und grüne Blätter. Wenn er so dalag, ließ seine Fantasie zwischen den Blättern in unmittelbarer Nähe seines Kopfes Gestalten

Weitere Kostenlose Bücher