So finster die Nacht
allmählich auch im nüchternen Zustand in seine Wahrnehmung der Welt ein. Er stand regungslos auf dem Parkweg und fasste die Lage für sich zusammen:
»Ich fange an, eine weiche Birne zu bekommen.«
Jetzt sieh es doch mal so, Jocke. Wenn du dich nicht zusammenreißt und das kurze Stück durch die Unterführung latschst, wirst du auch nie auf die Kanaren kommen.
Warum nicht?
Nun, weil du immer gleich die Biege machst, sobald das kleinste Problem auftaucht. Das Gesetz des geringsten Widerstands, in jeder Lebenslage. Glaubst du wirklich, du packst es, in einem Reisebüro anzurufen, dir einen neuen Pass zu besorgen, dir Sachen für die Reise zu kaufen, ganz generell den Sprung ins Unbekannte zu wagen, wenn du es nicht einmal packst, das kleine Stück zu gehen?
Da ist was dran. Also was soll’s. Wenn ich jetzt unter dieser Brücke hindurchgehe, dann heißt das, ich werde auf die Kanaren fahren, daraus kann wirklich etwas werden?
Ich könnte mir vorstellen, dass du gleich morgen anrufst und die Tickets bestellst. Teneriffa, Jocke. Teneriffa.
Er setzte sich erneut in Bewegung, füllte seinen Kopf mit sonnigen Stränden und Drinks mit Papierschirmchen. Und ob er reisen würde. Heute Abend würde er nicht zum Chinesen gehen, oh nein. Er würde zu Hause bleiben und in Reiseprospekten blättern. Acht Jahre. Es war verdammt nochmal an der Zeit, sich ein bisschen zusammenzureißen.
Er dachte gerade an Palmen und überlegte, ob es auf den Kanarischen Inseln welche gab oder nicht, ob er in dem Film Palmen gesehen hatte, als er das Geräusch hörte. Eine Stimme. Er blieb mitten unter der Brücke stehen, lauschte. Eine jammernde Stimme drang von der Wand des Brückengewölbes zu ihm.
»Hilfe …«
Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, aber er konnte nur die Konturen von Laub erkennen, das der Wind unter die Brücke geweht hatte, wo es in Haufen lag. Es klang wie die Stimme eines Kindes.
»Hallo? Ist da jemand?«
»Hilfe …«
Er schaute sich um. Kein Mensch in der Nähe. Es raschelte in der Dunkelheit, jetzt konnte er eine Bewegung zwischen den Blättern ausmachen.
»Bitte helfen Sie mir.«
Er hatte große Lust, einfach weiterzugehen, aber das ging natürlich nicht. Ein Kind war verletzt, womöglich von jemandem überfallen worden …
Der Mörder!
Der Vällingbymörder war nach Blackeberg gekommen, aber diesmal hatte sein Opfer überlebt.
Oh, verdammt.
Er wollte in nichts hineingezogen werden. Er würde doch nach Teneriffa fahren und so. Aber da war nichts zu machen. Er ging ein paar Schritte auf die Stimme zu. Die Blätter knirschten unter seinen Füßen, und nun konnte er den Körper sehen. Er lag wie ein Fötus zusammengekauert in den welken Blättern.
Oh verdammt, oh verdammt.
»Was ist passiert?«
»Helfen Sie mir …«
Jockes Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und er sah das Kind einen weißen Arm nach ihm ausstrecken. Der Körper war nackt, vermutlich vergewaltigt. Nein. Als er unmittelbar vor dem Kind stand, sah er, dass es nicht nackt war, sondern einen hellrosa Pullover trug. Wie alt? Zehn, zwölf Jahre. Womöglich war er von ein paar »Kameraden« verprügelt worden. Oder sie. Bei einem Mädchen wäre dies allerdings weniger wahrscheinlich.
Er ging neben dem Kind in die Hocke, nahm die Kinderhand in seine.
»Was ist denn passiert?«
»Helfen Sie mir. Heben Sie mich hoch.«
»Bist du verletzt?«
»Ja.«
»Was ist denn passiert?«
»Heben Sie mich hoch …«
»Du hast doch nichts am Rücken, oder?«
Er war während seines Wehrdienstes Sanitäter gewesen und wusste deshalb, dass man Menschen, die eine Rücken- oder Nackenverletzung hatten, nicht bewegen durfte, ohne vorher den Kopf zu fixieren.
»Es ist nicht der Rücken?«
»Nein. Heben Sie mich hoch.«
Was zum Teufel sollte er nur tun? Wenn er das kleine Ding in seine Wohnung mitnahm, konnte die Polizei womöglich auf die Idee kommen …
Er würde sie oder ihn zum Chinesen tragen und dort einen Krankenwagen rufen müssen. Ja. Das war die Lösung. Der Körper des Kindes war relativ klein und dünn, vermutlich war es ein Mädchen, und obwohl er nicht in bester körperlicher Verfassung war, würde er es wahrscheinlich schaffen, es das kurze Stück zu tragen.
»Okay. Ich trag dich in ein Lokal, wo wir telefonieren können, okay?«
»Ja … danke.«
Dieses »danke« zerriss ihm beinahe das Herz. Wie hatte er nur zögern können? Was war er eigentlich für ein Idiot? Na ja, er hatte sich eines
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