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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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hineinkommen.
    Außerdem hatte er Angst vor Eis.
    Als kleiner Junge war er einmal bei Papa draußen in Södersvik gewesen, und Papa war hinausgegangen, um die Reusen zu leeren. Vom Bootssteg aus hatte Oskar gesehen, wie Papa im Eis einbrach und sein Kopf für einen schrecklichen Moment unter der Eiskante verschwand. Oskar hatte allein auf dem Steg gestanden und gellend um Hilfe geschrien. Papa hatte zum Glück ein paar lange Nägel in der Tasche gehabt, die er benutzte, um sich aus dem Eisloch zu hieven, aber Oskar ging seither nur ungern auf eine Eisfläche hinaus.
    Jemand packte seine Arme.
    Er wandte sich schnell um, sah, dass die Lehrerin und die Mädchen hinter einer Wegbiegung, hinter dem Hügel verschwunden waren. Jonny sagte: »Jetzt geht das Schweinchen baden.«
    Oskar umklammerte fester seinen Stock, packte ihn mit beiden Händen. Er war seine einzige Chance. Sie zerrten an ihm und schleiften ihn mit sich. Zur Eisfläche hinunter.
    »Das Schweinchen riecht nach Scheiße und muss gebadet werden.«
    »Lasst mich los.«
    »Später. Ganz ruhig. Später lassen wir dich schon los.«
    Sie waren auf dem Eis. Es gab nichts, wogegen sich seine Füße hätten stemmen können. Sie schleiften ihn rückwärts auf das Eis hinaus, zum Eisloch an der Sauna. Seine Fersen zogen eine doppelte Spur durch den Schnee. Dazwischen schleifte der Stock, zog eine flachere Spur.
    Weit entfernt auf dem Eis sah er kleine Gestalten, die sich bewegten. Er brüllte, schrie um Hilfe.
    »Schrei du ruhig. Vielleicht zieht dich ja rechtzeitig einer raus.«
    Nur wenige Schritte entfernt gähnte schwarz das Eisloch. Oskar spannte jeden Muskel an und warf sich, drehte sich mit einem Ruck zur Seite. Mickes Griff löste sich. Oskar hing an Jonnys Armen und schwang den Stock gegen sein Schienbein; er sprang Oskar fast aus der Hand, als das Holz den Knochen traf.
    »Aua, verdammt!«
    Jonny ließ los, und Oskar fiel aufs Eis. Er richtete sich am Rand des Eislochs auf, hielt den Stock mit beiden Händen. Jonny griff sich ans Schienbein.
    »Du verdammter Idiot. Jetzt bist du dran.«
    Jonny ging langsam auf ihn zu, wagte wohl nicht zu laufen, weil er Angst hatte, selber im Wasser zu landen, wenn er Oskar mit zu viel Schwung stieß. Er zeigte auf den Stock.
    »Leg ihn weg, sonst bring ich dich um, kapiert?«
    Oskar biss die Zähne zusammen. Als Jonny nur noch etwas mehr als eine Armlänge entfernt war, holte Oskar mit dem Stock zu einem Schlag gegen seine Schulter aus. Jonny duckte sich und Oskar spürte einen dumpfen Stoß in den Händen, als das schwere Ende des Stocks Jonnys Ohr traf. Er flog zur Seite wie ein Bowlingkegel, plumpste brüllend der Länge nach aufs Eis.
    Micke, der zwei Schritte hinter Jonny gestanden hatte, wich jetzt zurück, hielt die Hände vor sich hoch.
    »Verdammt, das war doch nur Spaß … wir wollten dich doch nicht …«
    Oskar ging auf ihn zu und schwang den Stock mit einem dumpfen Brummen. Micke drehte sich um und lief zum Ufer. Oskar blieb stehen, senkte den Stock.
    Jonny lag zusammengekrümmt auf der Seite und presste eine Hand auf sein Ohr. Blut sickerte zwischen den Fingern hindurch. Oskar wollte sich entschuldigen. Es war niemals seine Absicht gewesen, ihm so wehzutun. Er ging neben Jonny in die Hocke, stützte sich auf den Stock, wollte »Entschuldigung« sagen, aber noch ehe er dazu kam, sah er Jonny.
    Er war ganz klein, lag zusammengekauert wie ein Fötus und wimmerte »aua, aua«, während ein dünnes Blutrinnsal in den Kragen seiner Jacke lief. Er wand den Kopf schwach hin und her.
    Oskar betrachtete ihn verblüfft.
    Dieses kleine, blutende Bündel auf dem Eis würde ihm nichts tun. Konnte ihn weder schlagen noch ärgern, sich nicht einmal verteidigen.
    Ich könnte ihn noch ein paar Mal schlagen, damit endgültig Ruhe herrscht.
    Oskar richtete sich auf, lehnte sich auf den Stock. Der Rausch wich einer tief im Bauch sitzenden Übelkeit. Was hatte er nur getan? Jonny musste richtig verletzt sein, wenn er so blutete. Und wenn er verblutete? Oskar setzte sich aufs Eis, zog einen Schuh aus und zog seine Wollsocke vom Fuß. Rutschte auf den Knien zu Jonny, tippte die Hand an, die dieser gegen sein Ohr presste, und schob die Wollsocke darunter.
    »Hier. Nimm die.«
    Jonny nahm die Wollsocke und presste sie auf sein verletztes Ohr. Oskar schaute auf das Eis hinaus. Er sah eine Gestalt, die auf Schlittschuhen näher kam. Es war ein Erwachsener.
    Dünne Schreie ertönten in der Ferne. Kinderschreie. Panikschreie. Ein einziger

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