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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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packte.
    »MEIN LEBEN HEISST JETZT GEHEN, MEIN BLEIBEN TOD. ELI«
    Er wusste, dass es ein Zitat aus Romeo und Julia war. Eli hatte ihm erzählt, dass die Worte, die sie auf den ersten Zettel geschrieben hatte, aus dem Stück stammten, und Oskar hatte sich das Buch in der Schulbibliothek ausgeliehen. Es hatte ihm recht gut gefallen, auch wenn es darin eine ganze Reihe von Wörtern gab, die er nicht verstand. Ihre Vestalinnentracht ist kränklich-grünlich. Verstand Eli all diese Worte?
    Jonny, Micke und die Mädchen gingen zwanzig Meter hinter Oskar und der Lehrerin. Sie kamen am Chinapark vorbei, in dem einige Kindergartenkinder Schlitten fuhren und so schrien, dass die Luft in Stücke zerschnitten wurde. Oskar trat gegen einen Schneehaufen und sagte leise:
    »Marie-Louise?«
    »Ja?«
    »Woher weiß man, dass man jemanden liebt?«
    »Oh. Ja …«
    Die Lehrerin vergrub ihre Hände in den Taschen des Dufflecoats, blickte schräg in den Himmel hinauf. Oskar überlegte, ob sie an diesen Mann dachte, der sie ein paar Mal von der Schule abgeholt hatte. Oskar hatte nicht gefallen, wie er aussah. Der Kerl wirkte verschlagen.
    »Das ist sicher ganz verschieden, aber … ich würde jedenfalls sagen, wenn man weiß … oder zumindest ganz stark glaubt, mit diesem Menschen will ich für immer zusammen sein.«
    »Man kann sozusagen nicht mehr ohne ihn sein.«
    »Ja genau. Zwei Menschen, die nicht ohneeinander sein können … das ist wohl Liebe.«
    »Wie bei Romeo und Julia.«
    »Ja, und je größer die Hindernisse … hast du das mal gesehen?«
    »Gelesen.«
    Die Lehrerin sah ihn an und lächelte dabei auf eine Art, die Oskar bis jetzt immer geliebt hatte, nun jedoch ein wenig unangenehm fand. Er sagte schnell:
    »Und wenn es zwei Jungen sind?«
    »Dann sind sie Freunde. Das ist ja auch eine Art Liebe. Oder wenn du meinst … ja, Jungen können sich natürlich auch so lieben.«
    »Und was machen sie dann?«
    Die Lehrerin sprach ein wenig leiser.
    »Nun ja, das ist ja nichts Schlimmes, aber … wenn du darüber sprechen willst, sollten wir das lieber später tun.«
    Sie gingen ein paar Meter schweigend weiter und erreichten die Böschung, die zur Bucht Kvarnviken hinabführte. Der Geisterhang. Die Lehrerin atmete tief durch, ein Duft von kaltem Nadelwald. Dann sagte sie:
    »Man geht einen Bund ein. Unabhängig davon, ob es jetzt Jungen oder Mädchen sind, geht man eine Art Bund ein, dass … du und ich, wir gehören zusammen. Man weiß es einfach.«
    Oskar nickte. Er hörte die Stimmen der Mädchen näherkommen. Gleich würden sie die Lehrerin wie üblich für sich beanspruchen. Er trat so nahe an die Lehrerin heran, dass ihre Jacken sich berührten, sagte:
    »Kann man eigentlich beides sein … Junge und Mädchen? Oder weder Junge noch Mädchen?«
    »Nein. Menschen jedenfalls nicht. Es gibt gewisse Tiere, die …«
    Michelle lief zu ihnen, schrie mit piepsiger Stimme: »Frau Lehrerin! Jonny hat mir Schnee in den Nacken geworfen!«
    Sie waren den Hang halbwegs hinuntergekommen. Kurz darauf waren alle Mädchen da und berichteten, was Jonny und Micke alles getan hatten.
    Oskar wurde langsamer, ließ sich ein paar Schritte zurückfallen. Er drehte sich um. Jonny und Micke waren auf der Kuppe des Hangs. Sie winkten Oskar zu. Er winkte nicht zurück. Stattdessen hob er einen kräftigen Ast auf, der neben dem Weg lag, und entfernte im Gehen kleinere Zweige.
    Er kam an dem Geisterhaus vorbei, das dem Hang seinen Namen gegeben hatte. Ein riesiges Lagergebäude mit Wellblechwänden, das zwischen den kleinen Bäumen total irre aussah. Auf die Wand, die dem Hang zugewandt war, hatte jemand mit großen Buchstaben gesprayt:
    »BEKOMMEN WIR DEIN MOPED?«
    Die Mädchen und die Lehrerin spielten Fangen, liefen den Weg hinunter, der parallel zum Wasser verlief. Er hatte nicht vor, zu ihnen zu laufen. Jonny und Micke waren hinter ihm, ja. Er packte seinen Stock fester, trabte weiter.
    Es war ein schöner Tag. Die Wasserfläche war vor ein paar Tagen zugefroren und die Eisdecke mittlerweile so dick, dass die Schlittschuhgruppe, angeführt von Lehrer Ávila, hinuntergegangen war, um darauf zu laufen. Als Jonny und Micke erklärten, dass sie in die Gruppe wollten, die einen Spaziergang machte, hatte Oskar noch kurz überlegt, ob er nach Hause laufen, seine Schlittschuhe holen und die Gruppe wechseln sollte. Aber er hatte seit zwei Jahren keine neuen Schlittschuhe mehr bekommen, würde vermutlich mit den Füßen überhaupt nicht mehr

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