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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Schreis zuschoss. Er sah jetzt, dass sich mehrere Kinder versammelt hatten und alle zusammen wie am Spieß schrien, während weitere zu ihnen stießen. Er sah zudem, dass sich vom Krankenhaus her eine erwachsene Person zum Wasser hinabbewegte.
    Mit zwei, drei letzten, kräftigen Schritten war er bei den Kindern und bremste so heftig, dass eisige Hobelspäne auf die Jacken der Kinder flogen. Er begriff nicht. Alle Kinder standen an dem Astevorhang versammelt, schauten zu etwas auf dem Eis hinab und schrien.
    Er glitt zu den Kindern.
    »Was ist los?«
    Eines der Kinder zeigte auf das Eis hinab, auf einen Klumpen, der darin festsaß und wie eine braune, gefrorene Grassode mit einer roten Kerbe an der Seite aussah. Oder wie ein überfahrener Igel. Er beugte sich zu dem Klumpen hinab und erkannte, dass es ein Kopf war. Ein Kopf, der festgefroren im Eis hing, sodass nur der Scheitel und der obere Teil der Stirn herauslugten.
    Der Junge, den er zum Pinkeln fortgeschickt hatte, stand ein paar Meter entfernt schluchzend auf dem Eis.
    »I-hi-hich bi-in ge-gegen i-hin gefah-ha-ren.«
    Ávila richtete sich auf.
    »Alle weg! Alle fahren zum Ufer. Jetzt.«
    Die Kinder schienen ebenfalls im Eis festgefroren zu sein, die kleineren schrien immer weiter. Er hob seine Trillerpfeife an den Mund, blies zweimal kräftig hinein. Die Schreie verstummten. Er machte ein paar Schritte, wodurch er in den Rücken der Kinder gelangte und sie zum Ufer scheuchen konnte. Die Kinder kamen mit. Nur ein Junge aus der Fünften blieb stehen und beugte sich neugierig zu dem Klumpen hinab.
    »Du auch!«
    Ávila befahl ihn mit einer Geste zu sich. Am Ufer angekommen, sagte er zu der Frau, die vom Krankenhaus heruntergekommen war: »Ruf Polizei. Krankenwagen. Es liegt Mensch festgefroren in Eis.«
    Die Frau lief zum Krankenhaus zurück. Ávila zählte die Kinder am Ufer ab und erkannte, dass eines fehlte. Der Junge, der gegen den Kopf gefahren war, hockte noch immer auf dem Eis, hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Ávila glitt zu ihm und hob ihn unter den Armen an. Der Junge drehte sich um und schlang seine Arme um Ávila, der den Jungen sanft, wie ein zerbrechliches Paket, hochhob und mit ihm zum Ufer lief.
    *
    »Kann man mit ihm sprechen?«
    »Sprechen kann er ja nicht …«
    »Nein, aber er versteht doch, was man sagt.«
    »Ich denke schon, aber …«
    »Nur ganz kurz.«
    Durch den Nebel, der sein Auge bedeckte, sah Håkan einen dunkel gekleideten Mann einen Stuhl heranziehen und sich neben das Bett setzen. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber vermutlich war seine Miene gewollt neutral.
    In den letzten Tagen war Håkan immer wieder in einer roten Wolke versunken, die von Linien so dünn wie einzelne Haare durchzogen war. Heute war der erste Tag, an dem er bei vollem Bewusstsein war, aber er wusste nicht, wie viele Tage verstrichen waren, seit er hier lag.
    Am Vormittag hatte Håkan mit den Fingern der Hand, in der er Gefühl hatte, sein neues Gesicht erforscht. Ein gummiartiger Verband bedeckte es komplett, aber anhand der Konturen unter dem Verband, denen er schmerzhaft mit den Fingerspitzen gefolgt war, hatte er erkennen müssen, dass er kein Gesicht mehr hatte.
    Håkan Bengtsson existierte nicht mehr. Geblieben war ein nicht identifizierbarer Körper in einem Krankenhausbett. Sie würden ihn natürlich mit seinem zweiten Mord in Verbindung bringen können, nicht jedoch mit seinem früheren oder jetzigen Leben. Mit Eli.
    Danke, gut, Herr Wachtmeister. Ein tolles Leben. Ich habe eine Haut aus Napalm in meinem Gesicht, die unablässig brennt, aber ansonsten geht alles seinen geregelten Gang.
    »Also schön, mir ist schon klar, dass Sie nicht sprechen können, aber könnten Sie nicht nicken, wenn Sie hören, was ich sage? Können Sie nicken?«
    Ich kann. Aber ich will nicht.
    Der Mann neben dem Bett seufzte.
    »Sie haben hier ja versucht, sich das Leben zu nehmen, also sind Sie ganz offensichtlich nicht völlig … weggetreten. Bereitet es Ihnen Probleme, den Kopf zu bewegen? Können Sie die Hand heben, wenn Sie hören, was ich sage? Können Sie die Hand heben?«
    Håkan blendete den Polizisten aus und dachte an jenen Ort in Dantes Hölle, Limbus, an den alle großen Seelen nach ihrem Tod geführt wurden, die nicht dem christlichen Glauben angehörten. Er versuchte sich den Ort im Detail vorzustellen.
    »Schauen Sie, wir würden gerne wissen, wer Sie sind.«
    In welchem Kreis oder welcher himmlischen Sphäre landete Dante selbst

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