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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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heller, schneidender Ton, der sich wenige Sekunden später mit weiteren vermischte. Die Gestalt, die sich genähert hatte, blieb stehen, verharrte einen Moment reglos, machte kehrt und lief wieder davon.
    Oskar kniete neben Jonny, spürte den Schnee schmelzen, seine Knie feucht werden. Jonny kniff die Augen fest zu, stieß zwischen den Zähnen wimmernde Laute hervor. Oskar senkte sein Gesicht zu Jonnys.
    »Kannst du gehen?«
    Jonny öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und gelbes und weißes Erbrochenes spritzte zwischen seinen Lippen heraus, befleckte den Schnee. Ein bisschen davon landete auch auf Oskars Hand. Er betrachtete die schleimigen Tropfen, die auf dem Handrücken waberten und bekam ernsthaft Angst. Er ließ den Stock fallen und lief zum Ufer, um Hilfe zu holen.
    Die Kinderschreie beim Krankenhaus waren lauter geworden. Er lief in ihre Richtung.
    *
    Lehrer Ávila, Fernando Cristóbal de Reyes y Ávila, lief gerne Schlittschuh. Ja. Zu den Dingen, die er an Schweden am meisten schätzte, gehörten die langen Winter. Er hatte mittlerweile zehn Jahre in Folge am Wasalauf teilgenommen, und in den wenigen Jahren, in denen die äußeren Schärengebiete zufroren, setzte er sich jedes Wochenende ins Auto und fuhr nach Gräddö hinaus, um auf Tourenschlittschuhen so weit Richtung Söderarm hinauszulaufen, wie die Eisdecke zuließ.
    Es war jetzt drei Jahre her, dass die Schären zuletzt zugefroren waren, aber bei einem derart frühen Wintereinbruch wie in diesem Jahr bestand Hoffnung. Natürlich würde es auf Gräddö wie üblich vor Schlittschuhenthusiasten nur so wimmeln, wenn es richtig fror, doch das galt nur tagsüber. Und Fernando Ávila lief am liebsten nachts.
    Der Wasalauf in allen Ehren, aber man fühlte sich wie eine unter tausenden von Ameisen eines Volks, das plötzlich beschlossen hatte zu emigrieren. Auf den weiten Eisflächen in einer Mondscheinnacht allein zu sein war etwas vollkommen anderes. Fernando Ávila war zwar ein ausgesprochen lauer Katholik, aber wahrlich: In Momenten wie diesen war ihm Gott nah.
    Das rhythmische Scharren der Schlittschuhkufen, das Mondlicht, das dem Eis einen bleiernen Glanz verlieh, die Sterne, die ihre Unendlichkeit über ihm wölbten, der kalte Wind, der ihm ins Gesicht schlug, Ewigkeit und Tiefe und Raum in allen Richtungen. Größer konnte das Leben nicht sein.
    Ein kleiner Junge zog an seinem Hosenbein.
    »Herr Lehrer, ich muss Pipi.«
    Ávila erwachte aus seinen Träumen und zeigte auf ein paar Bäume am Ufer, die über das Wasser hinausragten; das kahle Geäst legte sich wie ein schützender Vorhang bis aufs Eis.
    »Da du kannst Pipi machen.«
    Der Junge schaute blinzelnd zu den Bäumen.
    »Auf dem Eis?«
    »Ja? Was macht das? Wird neues Eis. Gelb.«
    Der Junge sah ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank, lief aber trotzdem in Richtung der Bäume davon.
    Ávila ließ den Blick übers Eis schweifen, um sicherzugehen, dass keiner von den Älteren zu weit hinausgelaufen war. Mit einigen schnellen Schritten lief er weiter hinaus, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Zählte die Kinder ab. Alles in Ordnung. Neun. Und der Junge, der pinkelte. Zehn.
    Er fuhr herum, schaute in die andere Richtung, erstarrte.
    Da hinten ging etwas vor. Ein Gemenge aus Körpern bewegte sich auf etwas zu, das ein Eisloch sein musste, kleine aufragende Bäume markierten die Stelle. Während er stillstand und schaute, löste sich die Gruppe auf, und er sah, dass einer eine Art Stab in der Hand hielt.
    Der Stab wurde geschwungen, und ein anderer fiel um. Er hörte aus der Ferne einen Aufschrei, drehte sich um, kontrollierte seine eigene Gruppe ein letztes Mal und setzte sich in Richtung der anderen Gruppe in Bewegung. Einer aus ihr lief inzwischen zum Ufer.
    Dann hörte er den Schrei.
    Ein schriller Kinderschrei aus seiner eigenen Gruppe. Er blieb so abrupt stehen, dass der Schnee von seinen Schlittschuhen aufspritzte. Er hatte inzwischen erkannt, dass die Kinder an dem Eisloch schon etwas älter waren. Vielleicht Oskar. Ältere Kinder. Sie kamen alleine zurecht. Zu seiner eigenen Gruppe gehörten kleinere Kinder.
    Der Schrei wurde lauter, und während er kehrtmachte und darauf zulief, hörte er, dass andere Stimmen einfielen.
    Cojones!
    Ausgerechnet wenn er einmal einen Moment nicht da war, musste natürlich etwas passieren. Gebe Gott, dass das Eis nicht gebrochen war. Er lief, so schnell er konnte, Schnee wirbelte um seine Schlittschuhe, als er auf die Quelle des

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