So finster die Nacht
Wahl hatte, wurde Oskar stets ausgemustert. Johan rief Oskar an, wenn ihm langweilig war, nicht umgekehrt.
Es war ganz still in der Wohnung. Nichts geschah. Die Betonwände schlossen sich um ihn. Er setzte sich auf sein Bett und legte die Hände auf die Knie, sein Bauch war vor Süßigkeiten ganz prall.
Als würde etwas passieren. Jetzt.
Er hielt die Luft an, lauschte. Eine klebrige Angst ergriff schleichend Besitz von ihm. Irgendetwas kam näher. Ein farbloses Gas sickerte aus den Wänden, drohte Gestalt anzunehmen, ihn zu verschlucken. Er saß starr, hielt die Luft an und lauschte. Wartete.
Der Augenblick ging vorüber. Oskar begann wieder zu atmen.
Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser und zog das größte Küchenmesser von der magnetischen Leiste. Prüfte die Klinge am Daumennagel, wie Papa es ihm beigebracht hatte. Stumpf. Er zog das Messer zwei, drei Mal durch den Messerschleifer und prüfte es von Neuem. Ein mikroskopisch kleiner Splitter wurde aus seinem Daumennagel geschnitten.
Gut.
Er wickelte als provisorisches Futteral eine Abendzeitung um das Messer, klebte sie mit Tesafilm zusammen und presste das Paket zwischen Hosenbund und linke Hüfte. Nur der Griff ragte noch heraus. Er versuchte zu gehen. Die Klinge war seinem linken Bein im Weg, und er winkelte sie zur Leiste hin. Es war zwar unbequem, aber es ging.
Im Flur zog er seine Jacke an. Dann fielen ihm die zahlreichen Süßigkeitenverpackungen ein, die in seinem Zimmer auf dem Fußboden verstreut lagen. Er sammelte sie ein und stopfte sie für den Fall in die Jackentasche, dass Mama vor ihm nach Hause käme. Er würde die Verpackungen im Wald unter einen Stein legen können.
Er vergewisserte sich nochmals, dass er keine Beweise hinterlassen hatte.
Das Spiel hatte begonnen. Er war jetzt ein gefürchteter Massenmörder. Vierzehn Menschen hatte er mit seinem scharfen Messer bereits getötet, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen. Kein Haar, kein Bonbonpapier. Die Polizei fürchtete ihn.
Nun würde er in den Wald hinausgehen und sich sein nächstes Opfer suchen.
Seltsamerweise wusste er bereits, wie das Opfer hieß, wie es aussah. Es war Jonny Forsberg mit seinen langen Haaren und seinen großen, boshaften Augen. Er würde um sein Leben betteln und flehen und schreien wie ein Schwein, aber vergebens. Das Messer behielt das letzte Wort: Die Erde soll sein Blut trinken.
Oskar hatte die Worte in einem Buch gelesen, und sie gefielen ihm.
»Die Erde soll sein Blut trinken.«
Während er die Wohnungstür abschloss und durch die Haustür ins Freie trat, die linke Hand auf dem Griff des Messers ruhend, wiederholte er sie wie ein Mantra.
Die Erde soll sein Blut trinken. Die Erde soll sein Blut trinken.
Der überdachte Durchgang, durch den er auf den Hinterhof gelangt war, lag am rechten Ende der Häuserzeile, aber er ging nach links, an zwei Hauseingängen vorbei und über die Einfahrt hinaus, auf der Autos auf den Hof gelangen konnten. Er verließ den inneren Befestigungsring, überquerte die Ibsengatan und ging einen Hang hinab. Verließ den äußeren Befestigungsring. Ging weiter Richtung Wald.
Die Erde soll sein Blut trinken.
Zum zweiten Mal an diesem Tag war Oskar beinahe glücklich.
*
Es blieben nur noch zehn Minuten bis zu der Uhrzeit, die Håkan als letztmöglichen Zeitpunkt festgelegt hatte, als sich auf dem Weg ein einzelner Junge näherte. Soweit Håkan sehen konnte, war er dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Perfekt. Er hatte geplant, geduckt zum anderen Ende des Wegs zu laufen und dem Auserwählten anschließend entgegenzugehen.
Doch auf einmal waren seine Beine tatsächlich gelähmt. Der Junge ging unbeschwert den Weg herab, und die Zeit wurde immer knapper. Jede Sekunde, die verstrich, verringerte seine Chancen auf eine makellose Durchführung. Trotzdem verweigerten ihm seine Beine den Dienst. Er stand wie paralysiert und starrte, während der Auserwählte, der Perfekte, sich weiterbewegte, bald auf gleicher Höhe mit ihm sein würde, direkt vor ihm. In ein paar Sekunden würde es zu spät sein.
Ich muss. Muss. Muss.
Tat er es nicht, musste er sich das Leben nehmen. Er konnte einfach nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. So war es nun einmal. Entweder der Junge. Oder er selbst. Er hatte die Wahl.
Er setzte sich – zu spät – in Bewegung. Jetzt stolperte er durch den Wald heran, kam direkt auf den Jungen zugerannt, statt ihm ruhig und ungezwungen auf dem Weg zu begegnen. Idiot. Versager. Jetzt würde der
Weitere Kostenlose Bücher