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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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einzureden, dass sie eben keinem irren Reh begegnet war. Die Frage, was Ronja und Luke tatsächlich zugestoßen war, beherrschte jedoch ihre Gedanken. Die Fahrt verlief schweigend.
    Mit klopfendem Herzen näherte Merle sich dem Gemeindesaal. Sie hatte die bösen Blicke nicht vergessen. Doch zunächst kümmerte sich niemand um ihre Ankunft. Es waren kaum Leute anwesend, da ein kleinerer Suchtrupp die Gegend um die ehemalige Dorfmühle und den Weiher durchkämmte, wie sie erfuhr.
    Merle stellte den Korb mit den Lebkuchenmännlein auf einen Tisch, auf dem bereits belegte Brote und Thermoskannen mit Kaffee und Tee für die Helfer bereitstanden.
    »Komm«, sagte Felix, »ich stelle dich meiner Tante vor.«
    Sofort schüttelte Merle abwehrend den Kopf. »Du meinst die Mutter von Marie, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«
    »Ach was. Beate ist nicht Nicole. Komm mit.« Sein Ton duldete keine Widerrede und imponierte ihr ungewollt. Von dem unbeholfenen jungen Mann, dem sie vor ein paar Stunden begegnet war, war nichts mehr zu merken.
    Beate Lehmann war älter, als Merle erwartet hatte, vielleicht sogar älter als sie selbst, und zu ihrer Erleichterung sehr herzlich. Die Sorge um ihr kleines Mädchen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, doch es war ihr anzumerken, dass sie mögliche schreckliche Konsequenzen noch nicht an sich heranließ. Merle kannte das von sich selbst. Bloß nicht darüber nachdenken, dann wurde es vielleicht gar nicht erst wahr.
    »Deine Mago war eine gute Frau. Ich vermisse sie immer noch sehr«, meinte Beate leise, nachdem Merle sich neben sie gesetzt und ihr ebenfalls einen Lebkuchen in die Hand gedrückt hatte.
    Felix nickte den beiden Frauen freundlich zu und zog sich zurück.
    Beate betrachtete das Männlein und fuhr mit dem Finger die Konturen entlang. »Marie hat diesen Kuchen geliebt. Deshalb wollte sie immer mit den Älteren mitkommen. Ich habe es nicht immer erlaubt, aber nicht, weil ich Sorge hatte, dass etwas passiert. Sondern weil ich nicht wollte, dass Amelie und Ronja immer auf die Kleine aufpassen müssen. Ronja tut das gern. Sie kümmert sich viel um andere. Aber genau deshalb habe ich darauf geachtet, dass Marie ihr nicht zu sehr zur Last fällt.«
    Unwillkürlich überlief Merle eine Gänsehaut. Natürlich sprach Maries Mutter von der Vergangenheit, aber es klang zu sehr nach den Dingen, die man erst vor ein paar Tagen über ihre Großmutter gesagt hatte. Als ob schon alles vorbei wäre. Sie packte Beates Hand und drückte sie fest, in der Hoffnung, damit das bisschen Unterstützung zu geben, zu dem sie imstande war.
    »Mago hat Marie sehr oft zu sich genommen, als sie noch ein Baby war. Es ging mir damals lange Zeit nicht gut«, fuhr Beate nach einem kurzen dankbaren Nicken fort. Es schien ihr zu helfen, einfach zu reden, und so beschränkte Merle sich aufs Zuhören. »Es war beachtlich, wie viel Energie in dieser alten Frau steckte. Du wirst wissen, wovon ich spreche. Deine Großmutter hat mir aber vor allem beigestanden, hier im Dorf als Alleinerziehende zu bestehen. Marie hat keinen Vater. Ich hätte nie erwartet, dass das im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ein Problem darstellen würde, aber für manche ist das immer noch eine … Schande.«
    Merle nickte. Ihr Vater war mitten im Krieg Ende 1942 zur Welt gekommen. Ihr Großvater wiederum war kurze Zeit später in Russland gefallen, ohne seinen Sohn jemals kennengelernt zu haben. Für einige damalige Nachbarn in Steinberg war das ein Problem gewesen, denn Theodors Eltern waren zwar verlobt gewesen, hatten aber erst nach Kriegsende heiraten wollen. Ihr Kind war demnach unehelich geboren. »Wir leben nicht in geordneten Verhältnissen!«, hatte Omi oft in trotzig-stolzem Ton erklärt, dabei jedoch ein Gesicht gezogen, als wolle sie ausspucken. Ihre gefallene große Liebe war durch das fehlende Ehe-Dokument nie als Theodors Vater anerkannt worden. Das verwehrte seinem Sohn Theodor die dringend benötigte Halbwaisenrente, bescherte ihm dafür Spott und Stigmatisierung. Omi zufolge war das der Grund für den frühen Auszug ihres Sohnes gewesen. Damals hatte Theodor sich mit fünfzehn Jahren eine Lehre als Druckergeselle gesucht und dann mit viel persönlichem Aufwand sein Abitur nachgeholt, um zu studieren.
    Manche Dinge änderten sich offensichtlich nicht so schnell.
    Die beiden Frauen schauten auf, als lautes Rufen durch den Raum hallte. Leute rannten rein und raus, ein Mann versuchte, zwei

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