Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
Vom Netzwerk:
klebten Lebkuchenkrümel. Seine Augen glänzten fiebrig.
    Merles Freude darüber, dass eines der verschwundenen Kinder unversehrt vor ihrem Haus stand, schwand. Was stimmte mit dem Jungen nicht? Er bewegte sich hölzern und schaute zwar in Merles Richtung, aber eher durch sie hindurch. Dann griff er mit beiden Händen mehrere Lebkuchen und wandte sich ab, um sich in Richtung Waldrand in Bewegung zu setzen.
    Merle überlegte nicht länger. Hastig schloss sie das Fenster und lief in den Flur zur Haustür. In ihrem Inneren läuteten sämtliche Alarmglocken Sturm. Aber was sollte sie denn tun? Sie konnte Luke doch nicht einfach da draußen, oder schlimmer noch, einfach wieder in den Wald spazieren lassen!
    Sie riss an der Haustür. Ausgerechnet jetzt klemmte das blöde Teil! »Lass mich raus«, stieß Merle zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Die Tür flog auf und krachte so hart gegen die Wand, dass sich kleine Brocken Putz lösten.
    »Luke! Warte! Komm her zu mir, ich bringe dich zu deiner Mutter!«, rief sie der kleinen Gestalt hinterher, die sich mit eckigen Schritten langsam auf die Bäume zubewegte. Zora lief ihm zwischen die Beine, schlug ihre Krallen in seine Hose, doch er beachtete das Tier nicht, sondern stolperte unbeirrt weiter.
    Plötzlich kreischte die Katze panisch auf und jagte wie ein weiß-roter Blitz Richtung Scheune. Luke erreichte die ersten Bäume, blieb unter dem dunkelgrünen Dach wie angewachsen stehen. Ein Reh erschien am Waldrand. Noch unter den Bäumen blieb es stehen und witterte mit steil in die Luft gereckter Schnauze in den Wind. Seine Ohren zuckten nervös hin und her. Dann wandte es den Kopf und sah zum Haus.
    Nein, es sah nicht zum Haus. Es sah Merle direkt an. Sein Blick bohrte sich mitten in ihr Herz. Merle blieb der Mund offen stehen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als würde ein eiskalter Finger ihre Wirbelsäule entlanggleiten. Sie erkannte ihre Gegnerin.

Sechzehn
    Verrat
    M erle hätte nicht sagen können, wie lange sie und das Reh einander wie hypnotisiert gegenübergestanden hatten. Mit jedem Atemzug schwand ihr eigener Wille ein Stück weit mehr. Sie wollte zu dem Reh. So musste es Johann ergangen sein, als er Greta das erste Mal begegnet war. Wie hatte Hans diesem Lockruf widerstehen können?
    Das Reh stand immer noch regungslos.
    Einen Lidschlag später stand Merle vor dem Reh. Sie konnte sich nicht daran erinnern, zum Waldrand gegangen zu sein, aber jetzt war sie da. Nein, das war kein Tier. Sie stand vor einem kleinen Mädchen. Seine Haut war weiß wie Schnee und hob sich kaum von dem weißen Kleid ab, das es trug.
    Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz.
    Blut,
dachte Merle.
Wo ist das Blut? Es fehlt Blut.
    Merle, geh nicht in den Wald!
    Wer rief da? Warum sollte sie nicht mit dem netten Mädchen mitgehen? Es wollte doch nur ihr … Blut? Richtig, das war es. Es wollte sein eigen Fleisch und Blut. Keinen dummen Lebkuchen.
    Merle machte einen Schritt. Sie fragte sich, wer der kleine Junge war, den das Mädchen jetzt an die Hand nahm. Es ärgerte sie. Warum nahm das Mädchen den Jungen an die Hand und nicht sie? Hatte es den Jungen etwa lieber als sie?
    Geh nicht in den Wald!
    Von irgendwoher klang ein leises bedrohliches Grollen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Merle eine Bewegung. Wieder kreischte eine Katze. Lästige Viecher, stifteten nichts als Unheil, Merle langte nach der Hand des Mädchens. Es lächelte freundlich und streckte ebenfalls die Hand aus.
    Im nächsten Moment wurde Merle von einem gewaltigen Schlag zur Seite gestoßen. Sie taumelte, überschlug sich und schlug auf dem Waldboden auf. Ein schwerer Körper rollte über sie hinweg und sprang nach vorne zwischen sie und das Mädchen. Merle wischte sich ein paar feuchte Tannennadeln aus dem Gesicht und blinzelte orientierungslos. Ein schwarzgraues großes Etwas versperrte ihr die Sicht. Sie kroch auf allen vieren zu Seite und zog sich an einem Baumstamm wieder in die Höhe.
    Dort, wo das Mädchen gewesen war, stand nun wieder ein Reh mit rot funkelnden Augen. Es hatte die Ohren wie ein angriffslustiges Raubtier flach nach hinten angelegt und bleckte die Zähne. Aus seinem Maul tropfte Blut. Luke lag zusammengesunken vor den Vorderhufen des Tieres und rührte sich nicht. Der Kragen seines Shirts hatte sich rot verfärbt.
    Der schwarzgraue Schatten knurrte. Merle wimmerte. Was ging hier vor sich?
    Sie wollte es nicht wissen. Panisch warf sie sich herum und rannte, so schnell sie konnte, über die

Weitere Kostenlose Bücher