Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
Vom Netzwerk:
Fingerspitzen über Hans’ Mund, Wangen und Augen. »So viel Zeit ist vergangen.« Er röchelte, dann hustete er schwach.
    Hans drückte die Hand fester. Er war sicher, er müsste Freude empfinden, doch er konnte nicht. Er hatte nur eine undeutliche Erinnerung daran, was Freude war. »Wo sind alle hin, Vater?«
    »Das ist ein gottverlassener Ort. Sie sind alle gegangen. Deine liebe Mutter ist schon seit vielen Jahren tot, genau wie deine Geschwister. Hans!« Er griff nach dessen Arm. »Ich musste doch auf dich warten. Du bist der letzte Sohn, den ich noch hatte. Ich wusste, dass du eines Tages heimkehren würdest!«
    »Ja, Vater.« Hans fand keine Worte mehr. Er legte den Kopf auf die Brust des Alten und hörte dessen schwaches Herz mit letzter Mühe sein Werk verrichten.
    »Ein Urenkel. Er sieht genau aus wie du damals, als dich das Balg weggelockt hat. Deine Mutter hat doch recht gehabt. Sie war ein kleiner Dämon.«
    »Das war sie, Vater.« Hans winkte Christoph heran. Als der sich ohne Scheu neben seinem Großvater niederließ, nahm er die Hand des Jungen und legte sie in die Handfläche des Alten. Christoph streichelte sanft mit dem Daumen über die Schwielen und runzeligen Lebenslinien.
    »Dann kann ich nun gehen. Danke, mein Sohn. Danke, dass du mir in diesem letzten Augenblick diese Freude gebracht hast.«
    Hans richtete sich auf und wunderte sich kurz. Weder seine Knie schmerzten wie sonst, noch rebellierte sein Kreuz gegen die krumme Haltung. Er winkte Bartholomäus heran, der inzwischen näher getreten war, nachdem er begriffen hatte, wer der alte Mann war. Mit sanften Schritten näherte er sich dem Totenbett, nahm sein Brevier und spendete dem Alten das Sterbesakrament. Die ganze Zeit über hielten Hans und Christoph die Hände des Mannes. Als er friedlich die Augen schloss, falteten sie sie über der Brust, die sich mit einem letzten Atemzug hob und dann für immer absenkte.
     
    Hans wandte sich wieder dem Dorfrand zu, von wo aus eine Straße wegführte. Wohin sie führte, daran erinnerte er sich nicht. Als er die Kuppe des Hügels überschritt und das Dorf hinter sich ließ, lachte er auf. Laut und befreit wehte sein Lachen in die Nacht. Er hatte es endlich geschafft. Er war fort von allen Dämonen, fort von zu Hause und frei, zu gehen, wohin es ihm beliebte.
    Sicherlich, er hatte noch eine Schuld abzutragen. Doch zunächst einmal wollte er reisen. Thierenbach, Sankt Gallen, Santiago, vielleicht bis über das Meer. Solange Johann über Greta wachte, musste er sich keine Sorgen machen. Er wollte lernen und Wissen anhäufen. Und eines Tages würde er zurückkehren und Greta endgültig besiegen.

Fünfzehn
    Kuchenduft
    M erle träumte von frisch gebackenem Lebkuchen. Dann erwachte sie ruckartig und setzte sich auf. Der Duft hing unverkennbar im ganzen Raum. Verwirrt sah sie sich um. Wie spät war es? War ihr Vater vielleicht eingetroffen und hatte den Teig im Flur entdeckt? Warum hatte er sie nicht geweckt? Sie lauschte. Nichts deutete auf die Anwesenheit eines anderen Menschen hin.
    Sie sprang auf. In der Küche herrschte immer noch das gleiche Chaos, das sie angerichtet hatte, doch der Backofen war warm. Wo war der Lebkuchen?
    Omi hatte den Lebkuchen immer auf die Bank neben der Haustür gelegt. Merle trat ans Fenster und reckte den Hals. Die Bank war von hier aus gerade noch zu sehen und darauf mehrere Dutzend Lebkuchenmännlein. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Obwohl sie Hans’ Existenz und Anwesenheit akzeptiert hatte, fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, zu was er und das Haus noch imstande waren. Lebkuchen für sie zu backen war sicherlich lange nicht alles.
    »Danke, Hans!«
    Ihr war, als ob ein Windhauch um ihre Hüften strich, doch sie sah weder etwas, noch hörte sie einen Laut.
    Doch dann drang der verzweifelte Schrei einer Katze von draußen herein. Merle stutzte und beugte sich ein wenig weiter nach vorne, um besser sehen zu können. An der Bank stand ein kleiner Junge, der sich begierig über die Lebkuchen beugte. Zora stand hinter ihm, fauchte ungehalten und stupste ihm immer wieder mit der Nase gegen die Beine, ohne dass das Kind die Katze beachtete. Wo war der Junge so plötzlich hergekommen? War das Luke? Hans war es jedenfalls nicht. Zumindest hatte Merle ihn nicht mit Jeans und einem Star-Wars-Sweatshirt bekleidet in Erinnerung.
    Merle öffnete das Fenster. »Hey du, Luke? Lukas Rötgen?«
    »Ja?« Der Junge hob den Kopf. Sein Mund stand halb offen, und in den Mundwinkeln

Weitere Kostenlose Bücher