So finster, so kalt
Lichtung. Irgendetwas griff nach ihrem Knöchel, krallte sich in die Haut, und sie schlug der Länge nach hin. Dann war sie wieder frei. Ohne sich umzudrehen, kroch sie weiter, rappelte sich auf, rannte und erreichte endlich die Türschwelle. Mit letzter Kraft lief sie in den Flur und ließ sich dort zu Boden fallen.
Aus der Stube klang ein Geräusch, als würde jemand mehrmals gegen die Fensterscheibe schlagen. Merle kroch bis zur Tür und spähte in den Raum. Da war niemand. Nur das Fensterglas vibrierte in seinem Rahmen, als wolle es die Bewegung an die Wände weitergeben. Im selben Augenblick brach überall Tumult aus. Der Schaukelstuhl wippte nach hinten und fiel um. Irgendwo polterten weitere Möbel. Fensterläden schlugen gegen die Wände, als hätte eine Sturmbö sie erfasst. Über Merle erhob sich ein Rauschen und Rumpeln, das sie sofort wiedererkannte, aber umso weniger einordnen konnte: So hatte es im Winter geklungen, wenn sich Schneebretter auf dem Dach gelöst hatten und wie kleine Lawinen hinunterstürzten.
Merle sank zusammen und blieb einfach auf dem Steinboden liegen. Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
*
Als Merle wieder zu sich kam, vibrierte ein kleiner warmer Körper an ihrer Brust. Luzi lag neben ihr und schnurrte gleichmäßig.
Wie lange hatte sie hier gelegen? Was war passiert?
Merle richtete sich auf und wischte sich durch das Gesicht. Ein paar Tannennadeln, die sich in ihrem Haaransatz verfangen hatten, rieselten zu Boden. Behutsam schob Merle die Katze ein wenig von sich weg, stand auf und öffnete ganz vorsichtig die Tür. Luzi drängte sich durch den Spalt, lief über die Lichtung und hüpfte auf einen Baumstumpf. Dort saß sie eine kurze Weile und drehte den Kopf mit den zuckenden Ohren in alle Richtungen. Dann hob sie eine Vorderpfote und begann, sich zu putzen.
Merle hatte längst begriffen, dass das der wahre Grund sein musste, warum Omi immer darauf bestanden hatte, mindestens zwei Katzen im Haus zu haben. Sie waren Hauswächterinnen, kleine Alarmanlagen auf vier Beinen. Von wegen Mäuse.
Sie betastete ihren Knöchel, konnte jedoch keine Spuren einer Verletzung entdecken. Mühelos widerstand sie der Versuchung, zum Waldrand zu gehen, um herauszufinden, was geschehen war, bevor sie ohnmächtig im Flur zusammengesunken war.
Sie wollte nicht darüber nachdenken. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Ganz sicher hatte sie sich das alles nur eingebildet. Wenn sie nämlich den Gedanken zuließ, dass sie die Konfrontation mit diesem Greta-Wesen soeben wirklich erlebt hatte, dann hieß das, dass der kleine Luke tot war und dass Merle ihn hätte retten können und elendig versagt hatte.
Stattdessen stürzte Merle sich in die Normalität. Sie wechselte das Trinkwasser für die Katzen, räumte die Küche auf, spülte ab und legte die Lebkuchenmännlein sorgsam in einen Korb, um sie mit ins Dorf zu nehmen. Dabei ließ sie Luzi nicht aus den Augen, jederzeit bereit, ins Haus zu flüchten, sobald die Katze in Alarmbereitschaft ging. Da ja überhaupt nichts passiert war, war das zwar überflüssig, wie Merle sich weiterhin krampfhaft einredete, aber ein wenig Vorsicht konnte schließlich nicht schaden.
Ein paar Männlein musste sie auf der Bank liegen lassen, weil sie noch zu heiß zum Transportieren waren. Sie fragte sich, ob es im Haus noch einen weiteren geheimen Vorrat gegeben hatte, denn all diese Männchen konnten unmöglich alle in der Zeit entstanden sein, in der sie geschlafen hatte.
Dann endlich sah sie Felix in einer sauberen Uniform auf das Haus zukommen. Merle nahm ihre Jacke und den Korb und trat vor die Haustür.
»Da bin ich. Wo hast du die denn her?«, rief Felix und schielte auf den Korb. Er musste sich offensichtlich zurückhalten, sich nicht sofort ein Männlein zu sichern.
Lächelnd gab Merle ihm eines. »Ich habe noch einen kleinen Vorrat meiner Großmutter gefunden«, log sie. Irgendwie fand sie es doch unpassend zuzugeben, dass sie ihre Zeit damit vertrödelte zu backen, während das halbe Dorf nach den Kindern suchte.
Dankend nahm Felix ein Männlein und aß es gleich auf dem Weg zum Auto auf. Merle war froh, dass er bei ihr war. Verstohlen hatte sie einen Blick zum Waldrand gewagt und mit Erleichterung dort weder ein Reh stehen noch einen kleinen Jungen liegen sehen. Der Anblick der Uniform und des Polizeiwagens waren eine Wohltat. Beides repräsentierte das einundzwanzigste Jahrhundert und machte es ihr leichter, sich weiterhin
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