So finster, so kalt
Frau, zumindest in ihrer Manifestation als Kinderschreck und nicht als Dryade, und Greta dasselbe Wesen sind. Daher scheint mir das plausibel. Obwohl es mir aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt nicht gefällt! Diese Verquickung dieser Sage mit einem Märchen, das ist irgendwie unsauber.«
»Wie bitte?« Merle sah ihn ein wenig ungehalten an. »Hast du sonst keine Sorgen?«
»Schon gut!« Jakob hob beschwichtigend die Hand. »Ich fände es nur einfacher, wenn ich wüsste, womit ich es zu tun habe. Die erzählte Überlieferung dieses Wesens ist im Laufe der Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende widersprüchlich geworden.«
»Es nützt uns überhaupt nichts, wenn wir herausfinden, wo Greta herkommt und was sie genau ist«, widersprach Merle entschieden. »Mir ist vollkommen gleichgültig, ob es sich um eine Sagen- oder Märchengestalt handelt. Sie ist vor allem eins: gefährlich! Wir müssen wissen, wie wir sie besiegen können!«
»Das eine geht nicht ohne das andere, Merle. Irgendwer muss das Wesen erschaffen oder beschworen haben. Meine Vermutung ist, dass es sich um das fehlgeleitete Ergebnis eines keltischen Rituals handelt. Eventuell wussten die Druiden damals sogar, wie man das Ganze wieder rückgängig macht. Dann war diese Trude, also die Frau, die dieses Haus bewohnt hatte, keine Drude, sondern eine Druidin. Sie war entweder selbst ein nichtmenschliches Wesen, oder sie verfügte über außerordentlich großes Wissen. Das Feuer war mit Sicherheit kein gewöhnliches Feuer. Weißt du, was sie genau vorhatte, bevor Hans sie da hineingestoßen hat? Etwas, das über das Dokument hinausgeht?«
Merle zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber warte, ich hole eine Taschenlampe. Lass uns in den Kamin hineinschauen.«
»Hast du die Taschenlampe nicht auf der Lichtung verloren? Schleppst du immer ein ganzes Sortiment mit dir herum?«
»Wenn du hier ein paar Jahre gelebt hättest und Omis Vorliebe für Ölfunzeln kennen würdest, würdest du nicht fragen. Oder versuch mal, mit einer Kerze heimlich unter der Bettdecke zu lesen.«
Lachend schüttelte Jakob den Kopf. »Ist schon klar.«
Merle kehrte mit einer weiteren Taschenlampe zurück, und gemeinsam reckten sie sich in die Esse und starrten in den Kamin. Sie entdeckten viele Spinnweben und ein altes Vogelnest.
Ratlos starrte Merle in das leere Becken der Esse. Jakob trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Erzähl mir von Hans«, sagte er leise. »Er wird vermutlich erst seine Ewige Ruhe finden, wenn Greta besiegt ist?«
»Denke ich auch. Sie in einen Baum einzusperren war auf jeden Fall nur eine Übergangslösung. Abgesehen davon, dass wir diese nicht noch einmal wählen können, weil wir keine Ahnung haben, wie wir sie in diesen Baum hineinbekommen.«
»Hast du nicht eben gesagt, Hans hätte mit dir gesprochen? Kannst du ihn nicht fragen?«
»Er versteht mich, aber ich kann seine Antworten nicht deuten. Nicht mehr.« Merle schaute verlegen zu Boden. »Ich bin zu sehr mit Realität blockiert, um mich ganz auf diese Geisterkommunikation einzulassen, vermute ich.«
»Verstehe.« Jakob ließ sie los, ging zurück an den Tisch und trank einen tiefen Schluck Wein.
Entschieden schüttelte Merle den Kopf, folgte ihm und ließ sich im Reitersitz auf die Bank nieder. Dabei trommelte sie auf das Holz zwischen ihren Knien, bis Jakob sie strafend ansah. Sie wurde ungeduldig. Die ganze Zeit glaubte sie, die Lösung vor der Nase zu haben, ohne sie greifen zu können. »Der Baum scheidet aus. Hans’ Vater und Luke haben Greta daraus befreit, und das kann wieder passieren. Sie muss vernichtet werden.«
»Luke? Wieso Luke?«
»Habe ich dir das nicht erzählt? Ronja hat mir gesagt, dass er sich verletzt hat, als sie nach Omis Tod in den Verbotenen Garten eingedrungen sind. Nur eine Schramme, aber das wird gereicht haben. Hans’ Vater wiederum hatte sich bei seiner Arbeit verletzt, und plötzlich hat Greta dort gelegen. Das Blut hat den Bann gebrochen und sie befreit.«
»Warum hat sie dann nicht sofort mit den Kindesentführungen begonnen?«
Merle dachte darüber kurz nach. »Ich nehme an, sie musste erst Kraft schöpfen. Sie lebte ein paar Tage in Hans’ Familie. Ronja hat nach der Befreiung ein humpelndes Reh beobachtet. Ich nehme an, dass die Zeit zwischen den Entführungen von Hans damals und den Kindern heute ungefähr dieselbe ist. Das müsste sich überprüfen lassen. Findest du das wichtig?«
»Eher nicht. Wichtiger wäre
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