So fühlt sich Leben an (German Edition)
zumindest. Und drittens, weil meine Eltern im siebten Himmel schwebten. Marzahn, das war der real existierende Luxus, das Symbol für einen glänzenden Etappensieg der Arbeiterklasse.
Wir bezogen eine Wohnung auf dem Murtzaner Ring12 im neunten Stock. Und in kürzester Zeit füllte sich das Haus mit Menschen, die sich vor allem in den Abendstunden durch Lachen, Weinen, Zanken und Gestöhne mehr oder minder lautstark bemerkbar machten, denn die Wände waren dünn und dementsprechend geräuschdurchlässig. Durchlässigkeit war sowieso ein Grundprinzip unserer Platte. Ständig standen Nachbarn abends vor unserer Tür, und dann wurde es lustig. Meine Eltern bewirteten ihre Gäste mit dem griechischen Edelbranntwein Metaxa, es wurde gelacht und getrunken, und ich lag derweil nebenan im Bett und pennte langsam, aber sicher ein, von den glücklichsten Gefühlen beseelt, denn so viel Party war ich von unserer alten Wohnung am Ostbahnhof nicht gewöhnt. Ich fand’s super. Zumal sich die Dinge für mich auch unabhängig von der lebhaften Nachbarschaft prima entwickelten.
Mein erster Weg führte mich direkt zu meiner Schule– ich war ja wahnsinnig gespannt, was in diesem Punkt auf mich zukam. Und da lag sie, nur ein paar Schritte von unserem neuen Nest entfernt: die Polytechnische Oberschule Wolfgang Langhoff, ein niegelnagelneues Gebäude inklusive Sporthalle mit zartblauem Anstrich. Und in ansprechender Lage, denn gleich dahinter erstreckte sich der Akaziengrund, ein idyllisches Wäldchen, das von den Baumaschinen verschont worden war und nun auf, sagen wir, hundert mal hundert Metern etwas farbliche Abwechslung in das allseits grassierende Grau brachte. Hier würden sie mich also die nächsten zehn Jahre aufs Leben vorbereiten. Von mir aus ging das in Ordnung, und ich sehe mich noch mit breitem Grinsen vor unserer himmelhoch aufragenden Platte stehen, Vater und Mutter, Oma und Opa mütterlicherseits neben mir, die Schultüte fest an mich gedrückt, am Tag meiner Einschulung. Die Sonne scheint, die Planierraupen rasseln, die Presslufthämmer dröhnen, und ich grübele, was die Taucherbrille soll. Die liegt nämlich zuoberst in meiner Schultüte und starrt mich regelrecht an. Was um Himmels willen kann man in Marzahn mit einer Taucherbrille anfangen? Unterwasserausflüge in die Marzahner Matschlöcher unternehmen?
Meine Schulkameraden entpuppten sich als ein bunter Haufen Marzahner Arbeiterklassegören, bereit, die Schule auf den Kopf zu stellen. Hand in Hand mit Janine lief ich am ersten Schultag rüber zur Klubgaststätte Akaziengrund, wo wir unsere Schulspeisung erhalten sollten. Meine Hand war schweißnass, aber Janine wollte partout nicht loslassen. Auf einer Klassenfahrt stellte sich später heraus, dass sie mich äußerst süß fand. Also deshalb. Was mich anging– ich mochte Mädchen. Ganz allgemein. Nicht, dass ich damals schon die Initiative ergriffen hätte, aber ich schaute Mädchen gern an, ich fand Mädchen schön. Ich hätte diese Prinzessinnen stundenlang anhimmeln können. Dazu später mehr. Im Akaziengrund bekamen wir von nun an jedenfalls typisches Bauarbeiterfutter vorgesetzt, also Blutwurst mit Sauerkraut, Königsberger Klopse und ähnliche Ost-Kulinaria.
Die hohen Erwartungen, die ich in die Schule setzte, wurden aber vor allem durch Frau Radeke erfüllt. Unsere erste Lehrerin war jung und von der Leidenschaft durchdrungen, Kindern etwas beizubringen. Laufend ließ sie sich Neues einfallen, um uns für den Unterrichtsstoff zu gewinnen, ging mit uns vor die Tür und vermittelte uns ihr Wissen anhand einfacher Beispiele aus der Natur– es ist eben ein Unterschied, ob man Äpfel zählt oder abstrakte Zahlen an die Tafel kritzelt, ob man eine Aufgabe im Heft oder im Sandkasten löst. Eine tolle Lehrerin. Im Winter brachte sie mal Skier mit, die wir gemeinsam untersuchten, um das Konstruktionsprinzip zu ergründen. Glück gehabt, muss ich im Nachhinein sagen, denn schon die Nachfolgerin war der reine Horror.
Gut, wir kamen jedenfalls vom Start an alle miteinander klar. Übrigens wurde ich bald Jungpionier, und das bedeutete: weißes Hemd, blaues Halstuch, zwei- bis dreimal die Woche auf dem Schulhof zum Appell antreten, sozialistischen Erbauungsreden lauschen und zum Schluss den Slogan der Pioniere brüllen– Lehrer: » Für Frieden und Sozialismus! Seid bereit!« Wir: » Immer bereit!« Dann fuhr die flache Hand kurz zum Scheitel, und Frau Radeke konnte mit ihrem Unterricht loslegen. Diese Appelle
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