So gut wie tot
dünner und dünner wurde.
Wie die Bolzen am Dach allmählich nachgaben. Vor einigen Jahren hatten sich Leute auf einer Party darüber unterhalten, was man tun solle, wenn ein Aufzugseil riss und der Aufzug abstürzte. Mehrere Leute sagten, man solle in die Luft springen, bevor die Kabine aufschlug. Woher aber sollte man den Zeitpunkt kennen? Und wenn der Aufzug mit 150 km/h in die Tiefe schoss, bewegte man sich mit der gleichen Geschwindigkeit. Andere empfahlen, sich flach hinzulegen. Und ein Witzbold erklärte, es sei immer noch am sichersten, den Aufzug erst gar nicht zu benutzen.
Abby stimmte ihm aus ganzem Herzen zu.
Mein Gott, das war wirklich grotesk. Was hatte sie nicht alles durchgemacht, um nach Brighton zu kommen? Die ganzen Risiken, die sie auf sich genommen hatte, die Sicherheitsvorkehrungen, um keine Spuren zu hinterlassen.
Und jetzt das.
Sie malte sich aus, wie sich die Meldung in der Zeitung lesen würde. Unbekannte Frau bei tragischem Aufzugunglück getötet.
Nein. Nie im Leben.
Sie schaute zu der Glasscheibe hoch. Streckte sich, stieß mit dem Finger dagegen. Sie rührte sich nicht.
Abby drückte fester.
Nichts.
Aber sie musste sich bewegen. Sie reckte sich so sehr sie konnte, drückte die Fingerspitzen beider Hände dagegen und stieß mit aller Kraft zu. Der Aufzug geriet wieder in Bewegung. Ein dumpfer Laut, ein Aufprall an der Wand.
Dann hörte sie ein Kratzen über sich. Ein deutlich hörbares, langes Kratzen, als würde ihr jemand zu Hilfe kommen.
Sie horchte wieder. Versuchte, ihren keuchenden Atem und das Pochen ihres Herzens auszublenden. Sie horchte volle zwei Minuten, und ihre Ohren knackten, als säße sie in einem Flugzeug, doch diesmal war es nicht der Luftdruck, sondern die pure Angst.
Sie hörte nur das stete Knirschen des Seils und ein gelegentliches Knacken, als ob Metall riss.
10
11. SEPTEMBER 2001 Lorraine umklammerte das Telefon. Ein furchtbares Gefühl der Dunkelheit tat sich in ihr auf. Sie sprang aus dem Liegestuhl, rannte über die Terrasse, wobei sie fast über Alfie stolperte, und stürzte ins Haus. Ihre Füße versanken tief im weißen Teppich, ihr goldenes Fußkettchen klirrte.
»Genau da ist er«, sagte sie zu ihrer Schwester. Ihre Stimme war nur noch ein zitterndes Flüstern. »Genau da ist Ronnie jetzt gerade.«
Sie schaltete den Fernseher ein. BBC 1. Aufnahmen einer wackligen Handkamera, die bekannte Silhouette der hohen silbernen Zwillingstürme des World Trade Center. Aus den oberen Stockwerken des einen Turms quoll schwarzer Rauch, der das Gebäude fast verdeckte. Darüber ragte die schwarz-weiße Antenne hoch in den wolkenlosen kobaltblauen Himmel.
Oh, mein Gott, oh, mein Gott. Ronnie war da. In welchem Turm? In welchem Stock?
Sie achtete kaum auf die erregte Stimme des amerikanischen Korrespondenten. »Das war keine kleine Maschine, sondern ein richtig großes Flugzeug. Mein Gott!, mein Gott!«
»Ich rufe dich zurück, Mo. Ich rufe gleich zurück.« Sie wählte Ronnies Handynummer. Sekunden später erklang das Besetztzeichen. Sie versuchte es noch einmal. Und noch mal. Und noch mal.
Oh, Gott, mach, dass es ihm gut geht. Bitte, Liebling, ich will, dass es dir gut geht.
Im Fernsehen ertönte Sirenengeheul. Die Menschen blickten nach oben. Überall standen Gruppen in eleganter Bürokleidung und in Arbeitsanzügen wie festgefroren. Manche Leute hatten die Hände vors Gesicht geschlagen, andere hielten Kameras hoch. Dann schwenkte das Bild wieder auf die Zwillingstürme. Auf den schwarzen Qualm, der den wunderschönen blauen Himmel besudelte.
Ein Schauer überlief sie. Sie stand ganz still da.
Die Sirenen wurden lauter.
Kaum einer bewegte sich. Einige Wenige rannten auf das Gebäude zu. Ein Löschzug mit langer Leiter fuhr mit heulendem Martinshorn vor.
Wieder wählte sie Ronnies Nummer. Wieder besetzt. Immer das Gleiche.
Lorraine rief ihre Schwester zurück. »Ich kann ihn nicht erreichen«, sagte sie weinend.
»Alles wird gut, Lori. Ronnie ist ein Überlebenskünstler, er schafft das schon.«
»Aber – wie konnte das passieren? Wie kann ein Flugzeug so was machen? Ich meine –«
»Es geht ihm sicher gut. Das ist furchtbar, einfach unglaublich. Wie in einem dieser Katastrophenfilme.«
»Ich lege jetzt auf. Vielleicht versucht er, mich anzurufen. Ich versuch’s auch noch mal bei ihm.«
»Rufst du mich an, wenn du ihn erreicht hast?«
»Ja.«
»Versprochen?«
»Ja.«
»Es geht ihm gut, Süße, ganz bestimmt.«
Lorraine hängte
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