So gut wie tot
TATORT. Freitag, 19. Oktober. 18.30 Uhr. Vor Ort, Baustelle New England Quarter.
»Dürfte ich einen Vorschlag machen?«, erkundigte sich Joan Major.
Die forensische Archäologin war eine sympathische Frau Anfang vierzig mit langem braunem Haar und einer modernen eckigen Brille. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, eine braune Hose und derbe Stiefel.
Grace machte eine Handbewegung.
»Ich schlage vor, wir führen eine kurze Begehung durch. Es dürfte nicht unbedingt erforderlich sein, noch heute Abend mit der Arbeit zu beginnen. Bei Tageslicht gestaltet sich alles viel leichter. Wie es sich anhört, liegt das Skelett schon länger dort drin. Da wird ein weiterer Tag keinen Unterschied machen.«
»Gute Idee«, meinte Grace. »Wir müssen allerdings bedenken, dass die Bauarbeiten weiterlaufen.« Er schaute Ned Morgan an, einen großen bärtigen Mann mit wettergegerbtem Gesicht. »Ned, Sie müssen mit dem Vorarbeiter sprechen. Die Arbeiten in unmittelbarer Nähe des Abflussrohrs müssen ausgesetzt werden.«
»Ich habe vorhin mit ihm gesprochen. Er macht sich Sorgen, weil sie bereits in Verzug gesetzt wurden«, erklärte Morgan. »Er bekam fast einen Anfall, als er hörte, dass wir womöglich eine ganze Woche bleiben.«
»Die Baustelle ist groß«, sagte Grace. »Wir müssen sie nicht komplett schließen. Entscheiden Sie selbst, wo die Arbeiten im Rahmen der Suche ausgesetzt werden sollen.« Dann wandte er sich wieder an die Archäologin. »Aber Sie haben recht, Joan, morgen bei Tageslicht zu arbeiten, wäre günstiger.«
Er rief Steve Curry, den Leiter der örtlichen Schutzpolizei, an und bat ihn, bis auf weiteres einen Wachposten abzustellen. Curry war wenig begeistert, da seine Personaldecke dünn war.
Grace wandte sich an Joe Tindall, den Leiter der Spurensicherung, der zufrieden lächelte. »Mir ist es gleich, Roy«, sagte er mit seinem Midlands-Akzent. »Jetzt, wo ich die Abteilung leite, kann ich zu vernünftigen Zeiten Schluss machen. Du und deine Kollegen könnt mir nicht mehr das Wochenende versauen. Heute versaue ich anderen Leuten das Wochenende.«
Grace beneidete ihn insgeheim. In Wirklichkeit hätte das Skelett sogar bis Montag warten können, doch nun, da alles offiziell war, durfte es keinen Aufschub geben.
*
Zehn Minuten später betraten sie in Schutzkleidung den Tunnel. Grace ging vor, gefolgt von Joan Major und Ned Morgan. Der Experte vom Erkennungsdienst hatte die übrigen Mitglieder des Teams angewiesen, im Wagen zu warten, um die Kontaminierung des Tatorts auf ein Minimum zu beschränken.
Die drei blieben in der Nähe stehen und richteten die Taschenlampen auf das Skelett. Joan Major trat vor, bis sie es berühren konnte.
Mit einem Kloß im Hals starrte Roy Grace auf das Gesicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Sandy handelte, war sehr gering. Dennoch, die Zähne waren intakt. Sandy hatte gute Zähne gehabt, eins der vielen Dinge, die ihm so an ihr gefallen hatten. Schöne weiße, absolut ebenmäßige Zähne und ein hinreißendes Lächeln.
Als er sprach, kam ihm seine eigene Stimme fremd vor. »Mann oder Frau, Joan?«
Sie betrachtete den Schädel. »Die Stirn fällt ziemlich senkrecht ab. Männer haben in der Regel eine schrägere Stirn.« Ihre Stimme hallte unheimlich durch den Tunnel. Dann nahm sie die Taschenlampe in die linke Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die hintere Seite des Schädels. »Die Crista nuchalis ist stark abgerundet.« Sie tippte auf die Knochenleiste. »Wenn Sie Ihren Hinterkopf betasten, werden Sie eine stärkere Ausprägung fühlen. Das ist bei Männern normal.« Sie betrachtete die linke Ohrhöhle. »Auch das Antrum mastoideum deutet auf eine Frau hin, da es bei Männern stärker ausgeprägt ist.« Dann zeigte sie auf die Augenhöhlen. »Bei einem Mann würden die Augenbrauenwülste weiter hervortreten.«
»Sie sind also relativ sicher, dass es sich um eine Frau handelt?«
»In der Tat. Wenn wir das Becken freigelegt haben, kann ich es hundertprozentig sagen. Ich werde einige Messungen vornehmen. Das männliche Skelett ist gemeinhin robuster gebaut, und die Proportionen sind anders.« Sie zögerte kurz. »Zu einer Sache würde ich gerne Frazers Meinung hören.«
»Und die wäre?«
Sie deutete auf den Hals des Skeletts. »Das Zungenbein ist gebrochen.«
»Zungenbein?«
Sie zeigte auf einen Knochen, der von einem winzigen Streifen vertrockneter Haut baumelte. »Sehen Sie diesen u-förmigen Knochen? Er hält die Zunge an Ort
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