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So gut wie tot

Titel: So gut wie tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter James
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Minuten. Vielleicht fühlte sich eine Geburt so ähnlich an.
    Auf ihrer Uhr war es 3.08 Uhr. Abby saß seit beinahe neun Stunden im Aufzug fest. Vielleicht musste sie bis Montag hier drinnen bleiben, vorausgesetzt, sie stürzte nicht schon vorher in die Tiefe.
    Verdammte Scheiße. Wie war dein Wochenende? Na ja, ich habe meins im Aufzug verbracht. Echt cool. Es gab einen Spiegel und verschiedene Knöpfe und ein schmutziges Glasdach mit Glühbirnen und einen Kratzer an der Wand, der aussah, als hätte jemand ein Hakenkreuz hineinritzen wollen und es sich dann anders überlegt. Ach ja, ein Schild hing da auch noch. Wer das aufgehängt hat, konnte nicht richtig schreiben – und auch keine Aufzüge instand halten.
     
    WENN NOTFALL BITTE 013 228 7828 ODER 999 WÄHLEN
     
    Sie zitterte vor Zorn. Ihre Kehle war ausgedörrt, tat weh vom Rufen, die Stimme versagte ihr den Dienst. Nach einer kurzen Pause rappelte sie sich wieder auf. Inzwischen war es ihr egal, ob der Aufzug wackelte – sie musste hier raus, konnte nicht einfach warten, bis das Seil riss oder die Halterung nachgab und sie in den Tod stürzte.
    »Ich versuche es ja, ihr Idioten«, krächzte sie mit einem Blick auf das Schild. Dann rückten die Wände wieder näher, die nächste Panikattacke kündigte sich an.
    Das Telefon im Aufzug war immer noch tot. Sie drückte ihr Handy ans Ohr, atmete tief ein, um sich zu beruhigen, wollte ein Signal heraufbeschwören, verfluchte den Netzbetreiber, verfluchte die ganze Welt. Ihre Kopfhaut fühlte sich so straff an, dass ihr alles vor Augen verschwamm. Schon wieder der furchtbare Drang zu pieseln. Er erfasste ihren ganzen Körper.
    Sie drückte die Knie aneinander und holte tief Luft. Ihre Oberschenkel zitterten. Sie spürte einen grauenhaften Schmerz im Bauch, als hätte jemand ein glühendes Messer tief hineingestoßen und umgedreht. Sie wimmerte, rang nach Luft, wobei ihr ganzer Körper zitterte. Sie rollte sich in Fötalhaltung zusammen, drückte sich an die Wand. Lange würde sie es nicht mehr aushalten.
    Aber sie hielt durch, biss die Zähne zusammen, ihr Verstand würde über den Körper triumphieren. Sie war fest entschlossen, nichts zuzulassen, das ihr Gehirn ablehnte. Sie dachte an ihre Mutter, die – noch keine sechzig – durch Multiple Sklerose inkontinent geworden war.
    Verdammt, ich bin aber nicht inkontinent. Holt mich hier raus, holt mich hier raus, holt mich hier raus. Sie wiederholte es wie ein Mantra, bis der Drang den Höhepunkt erreichte und wieder abebbte. Unendlich langsam verschwand.
    Dann endlich war es vorüber, und sie ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Sie fragte sich, wie lange man den Harndrang unterdrücken konnte, bevor die Blase platzte.
    In der Wüste überlebten manche Leute, indem sie ihren eigenen Urin tranken. Vielleicht könnte sie in einen Stiefel pinkeln. Eine Notration. Wie lange konnte man ohne Flüssigkeit überleben? Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass ein Mensch wochenlang ohne Nahrung, aber nur wenige Tage ohne Wasser auskommen konnte.
    Sie richtete sich auf dem schwankenden Boden auf, zog den rechten Stiefel aus und sprang so hoch sie konnte, wobei sie mit dem Absatz gegen die Decke schlug. Es half nichts. Der Aufzug schaukelte nur wie wild, prallte gegen die Wände und schleuderte sie zur Seite. Sie hielt die Luft an. Diesmal, diesmal würde etwas reißen, ganz sicher. Die letzte Faser, die zwischen ihr und dem Nichts hing …
    Es gab Momente, in denen sie tatsächlich hoffte, das Seil möge reißen. Es wäre eine Lösung, für alles. Keine elegante Lösung, aber egal. Der Gipfel der Ironie.
    Und dann ging, wie als Antwort, das Licht aus.
    13
    11. SEPTEMBER 2001 Im Stadtteil Coldean in Brighton, wo Ronnie Wilson früher gewohnt hatte, war eines Nachts ein Haus niedergebrannt. Er erinnerte sich noch an den Geruch, den Lärm, das Inferno, die Feuerwehrautos. Er hatte in Bademantel und Pantoffeln dagestanden und zugeschaut, fasziniert und verängstigt zugleich. Vor allem aber erinnerte er sich an den Geruch.
    An den entsetzlichen Geruch von Zerstörung und Verzweiflung.
    Der gleiche Geruch lag auch jetzt in der Luft. Nicht das angenehm süßliche Aroma von Holzrauch oder der anheimelnde Geruch eines Kohlefeuers, sondern der scharfe, beißende Gestank brennender Farbe, verkohlten Papiers, versengten Gummis und ätzender Gase, die geschmolzenem Kunststoff entwichen. Ein erstickender Gestank, der ihm in den Augen brannte. Am liebsten hätte er sich die Nase zugehalten

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