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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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anderen?«
    »Wolffschen«, sagte Jo’ela ungeduldig.
    »Erklär mir’s noch mal«, bat Hila, und Jo’ela tat es, wie sie es schon im letzten Sommer getan hatte, während sie mit der stumpfen Seite eines weißen Plastikmessers in den warmen Sand malte, nachdem Hila gefragt hatte: »Hältst du das nicht für ein großes Wunder?«
    »Wieso Wunder?« hatte Jo’ela damals verschlafen gefragt, das Gesicht in die Gummimatratze gedrückt.
    »Schau doch mal, dann siehst du es selbst«, hatte Hila gesagt, und Jo’ela hatte in die Richtung geschaut, in die der weiße Arm deutete. Hila saß entspannt in dem weißen Liegestuhl und hatte sich zum Schutz vor der Sonne in ein weißes Handtuch gewickelt. Unter der breiten Krempe des Strohhuts betrachtete sie durch ihre dunklen Brillengläser die morgendlichen Turner, die Ballspieler, die jungen Mädchen in ihren Badeanzügen mit den fast bis zur Taille hochgezogenen Beinausschnitten. »Alles. Ein großes Wunder. Die Menschheit.«
    »Ach so, die Menschheit«, meinte Jo’ela, drehte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellenbogen.
    »Wundert dich das nicht? All die jungen Mädchen, die Frauen, die alten Frauen … all die Männer. Sie gehen in einen Laden, sie kaufen sich Badesachen, sie fahren dahin und dorthin … Überall auf der Welt fahren Leute zum Strand. Wundert es dich nicht, daß sie alle mal Babys waren und von dem Augenblick ihrer Geburt entschieden war, nein, früher, viel früher, ob sie Frauen oder Männer werden, und daß sie von Anfang an alles hatten, was sie dazu brauchten? Ich sage dir: Das ist ein Beweis dafür, daß es Gott gibt.«
    »Chromosomen und Hormone, genetische Festlegung«, murmelte Jo’ela. »Das alles gehört zur Evolution.«
    »Das ist kein Widerspruch«, beharrte Hila, »genausowenig wie wenn man Wasser HO2 nennt, was heißt das schon?«
    »H2O«, korrigierte Jo’ela. »Ich habe es dir doch schon mal erklärt.«
    Damals hatte sie ein weißes Plastikmesser genommen und die doppelten Fortpflanzungsorgane im Körper eines Fötus in den Sand gezeichnet, wie sie es jetzt auch tat, mit der Spitze der Gabel auf dem Holztisch, und erklärte, wie sich die Gebärmutter, die Eileiter und das obere Drittel der Vagina entwickeln, und sich selbst wunderte über die Begeisterung, mit der sie sprach. »Ich habe dir erklärt, daß die Gonaden sich grundsätzlich entweder zu männlichen oder zu weiblichen Fortpflanzungsorganen entwickeln können, daß sie nur männlich werden, wenn das männliche Geschlechtschromosom vorhanden ist, sonst entwickeln sie sich weiblich, und dann bildet sich das Wolffsche Gangsystem, das heißt die männliche Anlage, im ersten Drittel der Schwangerschaft zurück, die Müllerschen Gänge entwickeln sich, und das Kind bekommt Gebärmutter, Eileiter und das obere Drittel der Vagina.«
    »Und Eierstöcke«, sagte Hila.
    »Die Eierstöcke gehören nicht dazu. Soll ich es dir noch einmal erklären?«
    »Nein.«
    »Im Normalfall sind die beiden Gänge jeweils symmetrisch, die beiden Seiten stimmen überein. Und im Fall einer Agenesie, das heißt, wenn die Gonaden fehlen, entwickeln sich weder Eileiter noch Gebärmutter und auch nicht das obere Drittel der Vagina. Selbst wenn die betreffende Frau Brüste hat und normal aussieht, wird sie nicht menstruieren, und wenn man sie mit der Hand untersucht, stößt man nirgendwo an, und mit Ultraschall oder bei einer Laparoskopie stellt man fest, daß es keine Gebärmutter gibt, und das ist es, was ich anfangs gedacht habe, denn sie hat keine Periode. Aber man sieht an ihr nicht einmal sekundäre Geschlechtsmerkmale, nichts, gar nichts, und die äußeren Geschlechtsorgane sind weiblich, deshalb ist es nicht … Ach, ist ja auch egal.«
    »Nein, nein, hör nicht auf«, bat Hila. »Also, was war mit ihr? Was wird mit ihr sein?« Hila war eine wunderbare Zuhörerin, wenn am Schluß eine Geschichte herauszukommen versprach. Aus Erschöpfung und einer Art Aussichtslosigkeit war Begeisterung geworden, und beim Erzählen wurde Jo’ela wieder einmal klar, daß es gut war, die Dinge laut auszusprechen, und daß Sprechen überhaupt gut war, nicht nur wegen der Entspannung, sondern weil es einen zwang, klar zu formulieren, damit der andere verstand, was man meinte. Als sie das Gesicht des Mädchens beschrieb, das kreidige Gefühl, das beim Berühren der Haut auf ihren Händen zurückgeblieben war, merkte sie auch, daß sie sich anstrengen mußte, um gegen den unbestimmten Wunsch anzugehen, alles

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