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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Es wurde gejagt und geschossen. Oben auf dem Hügel stand Bambis Vater, und sein großes Geweih ragte zwischen den brennenden Ästen heraus. Es geht gut aus, versprach ihr Vater, und in dem dunklen Kinosaal fingen ein paar Kinder an zu weinen. Aber es ging tatsächlich gut aus. Bambi wuchs ein Geweih, so groß wie das seines Vaters. Und es bekam auch eine Frau.
    Gleich werden die Klänge in die Luft fliegen. Schon längst hat der Vater ihr beigebracht, wie das Instrument heißt: Trompete. Das Wort klingt überhaupt nicht nach goldenen Tönen und blauem Samt. Ein Sonnenstrahl stiehlt sich ins Zimmer, in dem das Brüderchen auf dem Holzstuhl gurrt, mit der dicken kleinen Faust auf Bambi schlägt und mit offenen Händchen durch die Luft fuchtelt, in Richtung Trompete. Der Sonnenstrahl gleitet über das Gold und läßt es rot aufblitzen. Der Vater erlaubt ihr, die goldenen Knöpfe zu berühren, er erlaubt ihr auch zu blasen. Aber wenn sie hineinbläst, hört man nur die Luft. Der kleine Bruder starrt mit seinen blauen Augen wie hypnotisiert auf die Trompete und schiebt die Lippen wie zum Blasen vor. Er verfolgt jede Bewegung, fuchtelt mit seinen Armen herum, trampelt mit seinen dicken glatten Beinchen – keine grünlichen Streichholzbeine – auf das Holzbrett unter dem Hochsitz. Den Knochen hat er schon auf den roten Teppich geworfen, aber niemand hat es gemerkt, und sie hat sich auch nicht gebückt, um ihn aufzuheben. Es ist ihr egal, ob Ameisen kommen. Schließlich ist sie diesmal nicht schuld, das kann jeder sehen. Der kleine Bruder möchte das Gold, das im Sonnenstrahl aufblitzt.
    Die Sonne trifft auch den Ehering am langen Ringfinger des Vaters und den dunklen Flaum, von dem Fünkchen ausgehen, so daß es scheint, als glitzere die ganze Hand. Der Vater hat den Kopf zurückgelegt, bläst die Backen auf, und plötzlich kommen die Töne heraus. Die Luft zittert. Wellen strömen durch das Zimmer, alles bewegt sich und schmerzt. Die Art, wie der Klang durch den Körper schneidet und weh tut, ist nicht zu ertragen. Sie möchte sich die Ohren zuhalten, die Finger hineinstecken, aber zugleich ist der Klang so süß, daß sie ihn nicht versäumen will. Denn gleich wird er wieder vorbei sein. Sie ist ganz nahe bei ihrem Vater und sieht die Lippen, die sich um das Mundstück pressen, die aufgeblasenen Backen. Sie rutscht noch näher. Er steht vor dem Sofa. Statt sich die Finger in die Ohren zu stecken, legt sie die Hände flach auf die Ohren, hebt sie an, legt sie wieder hin. Der Ton kommt und geht, wie bei der großen Muschel, in der man das Meer rauschen hört, auch wenn es gar nicht hier ist, in ihrem Bett, sondern weit weg. Sie legt dem Vater zwei Fingerspitzen auf die Wangen und drückt sie hinein – wie bei dem Spiel, das er früher mit ihr gespielt hat, als sie drei Jahre alt war und er wollte, daß sie etwas aß –, um den Anblick des Gesichts, das nicht mehr aussieht wie ein Gesicht, zu beenden. Und mit einem Schlag ist alles vorbei. Das Zimmer hört auf zu zittern, sein Gesicht fällt zusammen, verzieht sich enttäuscht, und dann lacht er, nimmt das Mundstück heraus, legt es wieder zurück an seinen Platz in der schmalen, samtenen Vertiefung.
     
    Sie haben ihr ein neues Organzakleid mit einem weißen Unterrock angezogen. Sie ist noch einmal frisiert worden, mit sehr fest geflochtenen Zöpfen, und darf auf gar keinen Fall die weißen Murmeln, die ihr der Vater mitgebracht hat, in die Tasche ihres Kleids stecken. Sie darf für die Zeit, die sie draußen vor dem Saal warten muß, nur eine Puppe zum Spielen mitnehmen. Aber auf den breiten, weißen Treppenstufen gegenüber der riesigen Glaswand, an die sie ihr Gesicht preßt – die Nase in die Breite gezogen, den Mund plattgedrückt –, kann man noch nicht einmal mit der Puppe spielen. Erstens ist es dunkel. Nur eine Straßenlaterne wirft etwas Licht unten auf die Treppe. Aber wenn sie sich dort hinsetzt, wird sie den Vater nicht sehen. Sie steht an der Glaswand und beobachtet, wie sich die Flügel des Kastens öffnen, wie er die goldene Trompete herausnimmt und den Kopf zurücklegt. Aber die Töne kann sie nicht hören. Sie haben ihr erklärt, daß Kinder nicht hineindürfen. Schon ein paarmal haben sie es ihr erklärt. Aufnahme ist das Wort, weshalb es diesmal verboten ist. Später wird man die Töne im Radio hören. Sie versteht nicht, wie das geht, eine Platte aufnehmen wie »Peter und der Wolf«, eine richtige Platte wie die, die im obersten Fach des

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