So habe ich es mir nicht vorgestellt
Bücherschranks stehen, mit dem Bild von einem Hund vorn auf der Hülle. Wie das gehen soll, versteht sie nicht, und auch nicht, warum sie draußen stehen muß, auf der Marmortreppe, hinter dem Glas auf der anderen Seite, in ihrem rosafarbenen Organzakleid, von dem niemand weiß, daß es neu ist, und mit frisch geflochtenen Zöpfen, die niemand sieht, um die aufgeblasenen Backen und die an das Mundstück gepreßten Lippen zu beobachten, ohne daß sie einen Ton hören kann.
Da, wo sie steht und ihr Gesicht ans Glas drückt, um ihn vielleicht zu erreichen, um vielleicht etwas zu hören, weiß eine Hälfte von ihr, daß man über das komische Gesicht ihres Vaters, über den zurückgelegten Kopf, die aufgeblasenen Backen und die an das Mundstück gepreßten Lippen lachen könnte. Sie erinnert sich genau, daß es ihr, als man ihr zu Hause erklärt hat, sie müsse draußen warten, egal gewesen ist. Aber jetzt ist es ihr nicht egal. Die böse Hälfte gewinnt. Die Hälfte, die drinnen sein will, bei ihm in dem großen Licht, mit den bedeutenden Leuten, die um ihn herum stehen, damit sie wissen, daß sie seine Tochter ist, nicht irgendein allein gelassenes Mädchen, das niemandem gehört und von dem niemand etwas weiß. Das ist die Hälfte in ihr, die sie jetzt dazu zwingt, mit den Füßen zu trampeln und mit den Fäusten gegen die Glaswand zu schlagen. Niemand dreht sich nach ihr um. Und irgendwie sind trotzdem die beiden durchsichtigen Murmeln – kein anderes Kind hat solche Murmeln: die gibt es nur da, wo ihr Vater arbeitet – in der kleinen Tasche ihres rosafarbenen Kleides. Sie hat sie im letzten Moment noch hineingeschoben. Diese Murmeln schlägt sie jetzt gegen die riesige Glaswand, und der Mann, der große schwarze Teller auf den Ohren hat und mit den Händen in der Luft herumfuchtelt, hält plötzlich inne; alle schauen zu ihr her. Der Mund ihres Vaters entspannt sich, seine Backen nehmen wieder ihre normale Form an. Seine dicken Augenbrauen ziehen sich zusammen, und er winkt mit der Hand, die die Trompete hält. Sie leuchtet jetzt nicht mehr golden in der Sonne, denn die Sonne ist längst untergegangen, und draußen ist es dunkel, auch auf den breiten weißen Treppenstufen, auf die nur ein kleiner, heller Lichtkreis von der Straßenlaterne draußen fällt. Aber drinnen, wo ihr Vater jetzt drohend den Finger hebt und ihn schnell hin und her bewegt und den Kopf auf eine Art schüttelt, die sie gut kennt, als hätte sie ihn wieder einmal sehr enttäuscht, gibt es viel Licht. Sie ist allein hier im Dunkeln und sieht, wie drinnen alles wieder so wird wie vorher, er hebt die Trompete an den Mund und bläst die Backen auf, als habe er vor, das noch lange zu tun, sehr lange, in alle Ewigkeit. Und wieder hebt der Mann die Hand und gibt ein Zeichen, die Backen ihres Vaters blasen sich noch mehr auf, sein Gesicht ist rot, und sie weiß genau, daß jetzt Klänge aus dem Instrument kommen, aber sie kann sie nicht hören. Und wieder schreit es in ihr, warum sie hier draußen stehen muß, hinter der Glaswand, von wo aus der erleuchtete Raum drinnen, der von Klängen überflutet sein muß, so hell und warm aussieht. Unten neben der Treppe entdeckt sie den Stein. Ein normaler Stein, mittelgroß, so wie die Steine, die sie im Hof mit den Jungen um die Wette wirft. Da hat sie es noch nie geschafft, die Linie zu erreichen, die die Jungen der fünften Klasse in den Boden ritzen, aber jetzt hebt sie, die Hand fest um den Stein geklammert, den Arm hoch, noch höher, hält den Stein noch fester, als wisse sie nicht, was sie mit ihm zu tun beabsichtigt, glaubt selbst nicht, daß sie es wagen wird, und eine fremde Kraft strömt durch ihren Arm, ihre Hand wird vorwärtsgeschleudert, und dann hört sie, wie der Stein auf die große Glaswand trifft, die aber nicht zerbricht. Sie hat den Stein mit aller Kraft geworfen, und die Leute drinnen erstarren. Entsetzte Gesichter blicken sie an. Es ist ihr egal. Sollen sie sie doch umbringen. Es ist sinnlos, zu erklären, warum sie es getan hat. Sie weiß es selbst nicht. Ihr Vater legt die Trompete einfach auf den Boden und kommt aus dem Zimmer gerannt. Er bleibt vor ihr stehen. Sein Gesicht ist kreideweiß, seine Lippen vor Wut verzerrt. Daneben spielt schon nichts mehr eine Rolle. Sie macht die Augen zu und hört ihr Herz heftig klopfen. Es ist ihr egal. Es tut nicht weh. Sollen sie doch mit ihr machen, was sie wollen, sie wird keinen Ton von sich geben. Auch als er ihr den Po verhaut, gibt sie
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