So habe ich es mir nicht vorgestellt
Geige, auf der begleitet sie die Kinder beim Singen. Die Geige hat einen kreischenden Klang, den die Kinder mit ihren Stimmen übertönen. An Schawuot hat die Lehrerin auf einem Akkordeon gespielt. Aber noch nie auf einem Klavier. Das Mädchen hat überhaupt noch nie ein Klavier gesehen. Sie sagt es, und der Vater lacht laut. Die Mutter steht noch immer neben der Tür. Mit verschränkten Armen, den Kopf zur Seite geneigt. Er spielt. Hebt zögernd die Hand über die Tasten, zitternd, schwebend, bis er sie endlich berührt.
Fünfzehn Jahre ist es jetzt her, sagt er in die Luft, wer hätte das geglaubt. Und die klaren Töne erfüllen das Zimmer. Sie kommen nicht von einer Platte und nicht aus dem Radio, sondern entstehen unter den geschickten Fingern des Vaters. Zögernd und weich. Am hölzernen Türstock lehnt die Mutter, und ihr blauer, schmerzhafter Blick hat plötzlich etwas Weiches, Mitleidiges. Aber nicht wegen der Musik, das weiß das Mädchen, sondern wegen etwas anderem. Wegen des Zusammenseins. Einen Moment lang gehören sie zusammen, das Mädchen ist ruhig, der kleine Bruder schläft im anderen Zimmer, der Wasserhahn ist abgedreht. Schön? fragt der Vater, und das Mädchen nickt. Sie sitzt jetzt nicht mehr auf seinen Knien, sondern steht neben ihm. Die Töne, die langsam begonnen hatten, strömen nun. Chopin, erklärt er. Seine Augen werden feucht. Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist alles vorbei. Ich erinnere mich nicht mehr, sagt er zur Mutter. Ich brauche Noten. Die Mutter blickt ihn freundlich an. Für eine Weile sieht er abwesend aus. Er ist nicht hier. Das Mädchen möchte wissen, wo er ist, aber er spricht nicht, und auch die Mutter schweigt. Was vorbei ist, ist vorbei, sagt er schließlich und klappt heftig den Deckel zu. Der Filzstreifen wird eingeklemmt, seine Enden hängen heraus. Der Vater blickt sich um, dann macht er den Deckel wieder auf. Mit gemessener Stimme erklärt er dem Mädchen Oktaven und Tonleitern. Zeigt ihr das C.
Das Mädchen wird Klavier spielen lernen, erklärt er einem unsichtbaren Zuhörer, wie eine Kampfansage, und die Mutter nickt.
Die Klavierlehrerin hat braune Flecken auf den Händen und hervorstehende Zähne. Sie riecht nach Frikadellen, wie die, die das Mädchen beim Mittagessen ewig lange im Mund behalten hat, bis sie endlich allein war und sie ausspucken konnte. Die Mutter kocht Kaffee, und die Klavierlehrerin hält den Silbergriff der gläsernen Tasse und spreizt dabei ihren knochigen kleinen Finger ab. Sie trinkt laut. Das Mädchen tut folgsam, was ihr aufgetragen wird: malt Noten, spielt Tonleitern, übt Etüden von Czerny. Aber das sind nicht die Klänge, die sie eigentlich hören möchte. Sie wünscht sich, daß auch unter ihren Händen, die sich so sehr bemühen, schmerzliche Töne entstehen. Manchmal passiert es, für einen Moment, wenn sie eine Tonleiter abwärts spielt, die chromatische Tonleiter heißt, wie ihr Vater ihr ehrfürchtig erklärt hat: Schau mal, wie bei Brahms. Das Mädchen weiß nichts von Brahms. Der Vater legt eine Platte auf, eine von denen, auf deren Hülle ein Hund gemalt ist. Starke Klänge eines Orchesters, bei denen einem schwindlig wird, schrecklich in ihrer Pracht, dann ein Klavier. Der Vater setzt vorsichtig die Nadel in die Mitte der Platte. Noch einen Moment, sagt er und legt den Finger auf die Lippen. Jetzt. Das ist eine chromatische Tonleiter. Sie hört zu. Es ist schwer, sich zu konzentrieren. Gedanken tauchen auf und tragen sie mit sich.
Die Klavierlehrerin ist wie Frau Desirée. Genauso zerstreut. Sie hat den gleichen Gesichtsausdruck eines Menschen, der nicht weiß, wo er sich befindet. Mit solchen Leuten ist es sinnlos zu reden. Dem Mädchen ist es egal. Sie hat ohnehin schon verstanden, daß sie es mit ihren kleinen Händen nicht schaffen wird, dem Klavier die Töne zu entlocken, die sie möchte. Sie möchte keine Tonleitern, sondern solche Musik wie von diesem Chopin. Du hast noch Zeit, sagt ihr Vater lächelnd, noch viel Zeit, du mußt nur jeden Tag üben. Aber das kann sie nicht, sie schafft es nicht, auf etwas zu warten, von dem sie nicht weiß, ob es je eintrifft. Ganz bestimmt wird sie es nie so können, wie es nötig wäre. Wie es das Ohr hören will. Auch wenn die Klavierlehrerin es ihr erklärt und zeigt, nachdem sie die leere Kaffeetasse auf den Tisch gestellt hat, auf die weiße, bestickte Decke – klingt es nicht, wie es eigentlich klingen sollte. Nicht so, daß es weh tut. Das Mädchen
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