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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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keinen Ton von sich. Es tut nicht weh. Sie hört, wie seine Hand auf den Organzastoff und ihre Unterhosen trifft, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Es tut nicht weh, und es ist ihr egal. Ihre Lippen sind zusammengepreßt, und sie wird die Frage Warum? nicht beantworten. Weiß sie doch, daß das Warum, alles, was sie ihm erklären könnte, seine Ohren nicht erreicht. Keine Erklärung wird auf sein Gesicht die Freude zurückbringen können, die sie gesehen hat, als er ihr erzählte, sein Solo, das von ihm komponierte Solo, würde aufgenommen. Sie weiß, daß er es ihr nie verzeihen wird. Hat sie doch versprochen, sich anständig zu benehmen. Er hat sie ausdrücklich gewarnt. Aber sie hat sich die Entfernung nicht vorstellen können, auch nicht die Dunkelheit auf den Marmortreppen, nicht die Wut und die Kränkung, die sie wegen der großen Glaswand empfinden würde, durch die sie nur sah, wie sich das Gesicht bewegte, aber keinen Ton hörte. Er packt sie wieder fest an der Schulter, und sie beißt sich auf die Lippen, um keinen Seufzer auszustoßen, um das Entsetzen nicht zu verraten, das sie beim Anblick seines Gesichts ergreift, einem Anblick, den sie nie im Leben vergessen wird. Sie hat alles verdorben, es ist verloren. Es ist auch noch verloren, als sie drinnen ist, im Zimmer, und der Mann mit den Tellern auf den Ohren den Arm hebt. Er wirft ihr einen Blick zu, und es ist ihr egal, was er denkt. Nur der helle, schmerzhafte Ton der Trompete ist wichtig, der durch den Raum hallt. Sie hebt nicht die Augen, um den Vater anzuschauen. Und trotz der Scham und der Angst, die in ihr nagen, weiß sie, daß sie von Anfang an hier hätte sein können, im Raum, und nicht draußen, und nur wegen dieser Leute – vor allem wegen dieses fremden Mannes, der sich schwarze Teller auf die Ohren gesetzt hat –, die ihrem Vater wichtiger sind als sie, hat er sich nicht für sie eingesetzt. Und weil er sich nicht für sie eingesetzt hat, hat sie es selbst tun müssen. Auch in der Scham liegt Kraft. Besonders, wenn man allein auf einem Stuhl in der Ecke sitzt. Ganz ruhig, wie sie es zu Hause versprochen hat. Sie sitzt da, sieht, riecht und hört ganz allein.
     
    Es gibt schon keine Trompete mehr. Im Wohnzimmer steht das Klavier, groß und schwarz. Möbelträger haben es gleich gebracht, nachdem der Vater mit der Nachricht nach Hause gekommen ist. Die Mutter schaut herein, sagt aber kein Wort. Das Mädchen hat selbst gehört, wie er gesagt hat: Ein Bett kann man auch in zwei Monaten kaufen, Betten gibt es immer zu kaufen, aber – das! Die Mutter hat den Mund aufgerissen und die Augen zugemacht. Ihr Gesicht war sehr blaß, aber sie hat wenigstens etwas gesagt. Ein paar Worte in ihrer Sprache, aber das Mädchen hat nur »Geld« verstanden.
    Leipzig, hat der Vater gesagt, antik, aus Leipzig, eine Gelegenheit. Ein Glücksfall. Dann hat er noch gesagt, die Leute seien »reingefallen«, und andere schwere Wörter benutzt. Leute, die sie nicht kennt. Sie hat sich vorgestellt, daß die Leute vielleicht ins Meer gefallen sind, und hätte gern gewußt, was das mit dem Klavier zu tun hat. Aber es war sinnlos, den Schwall von Worten zu unterbrechen oder den braunen Blick, mit dem er die Mutter verzauberte. Und mitten in seinen schnell dahingesagten, drängenden Sätzen, ungeduldig, als habe er sein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, hob er den Deckel und zeigte: Hier war der Spiegel und hier, zu beiden Seiten, die Kerzen und hier die Medaille. Vier goldene Medaillen befinden sich innen auf dem Deckel. 1872, liest er ehrfürchtig vor. Das Mädchen sieht schmale, gelblichweiße und schwarze Tasten, als er einen roten Filzstreifen hochhebt. Sie streichelt den Stoff.
    Das Mädchen wird spielen, sagt er zum Abschluß, und die Mutter verzieht das Gesicht. Wie ein kleiner Junge, murmelt sie von ihrem Platz an der Wohnzimmertür.
    Und er sagt: Der Platz ist genau richtig. Es paßt ins Zimmer. Es ist wie für diese Ecke geschaffen.
    Es gibt einen schwarzen Schemel, den man drehen kann. Sie hört, wie er quietscht, als er gedreht wird. Vor ihren Augen wird er höher. Noch ein Wunder. Wie kann das sein? fragt sie, aber er hört nicht hin. Er hebt sie hoch und setzt sie auf seine Knie. Sie sieht, wie er zart über die Tasten streicht. Sie sind aus Elfenbein, Klaviertasten, erklärt er. Sie weiß das. Aus Büchern. Und Elfenbein wird aus den Stoßzähnen von großen, grauen Elefanten gemacht, die in Afrika leben. Die Musiklehrerin in der Schule hat eine

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