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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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den Kopf. Wie grausam Tschechow doch war. Und wie recht er hatte. Man konnte dieses bedauernswerte Paar nicht schmähen, diese Gefangenen ihrer selbst, man mußte Mitleid mit ihnen haben, aber man konnte sie auch unmöglich als tragische Helden betrachten. Sie waren willensschwach und bedauernswert. Und das war noch das Höchste, was man sagen konnte. So geschahen die Dinge, und es bestand kein Zweifel, daß sie sich liebten. Aber was brachte ihnen, Anna Sergejewna und Gurow, diese Liebe? Was hatten sie davon, außer dem Bewußtsein, gefangen zu sein von Mächten, die sie nicht erklären konnten? Warum wagten sie nicht, mit allem zu brechen? Für Hila, die ständig las, bedeuteten Bücher keine Herausforderung, sondern eine Ablenkung. Wenn man sich täuschen lassen wollte, sollte man lieber nicht lesen. Aber es war gut zu lesen, um sich zu erinnern, um sich nicht zu dem Glauben verführen zu lassen, daß es auf der Welt andere Möglichkeiten gab. Bücher bereiten Kummer, aber dieser Kummer stärkt und erweitert den Blick, kühlt die brennenden Stellen, wie ein Umschlag mit Zinksalbe Wunden kühlt. Es ist ein anderer Schmerz. Ganz anders als dieser Schmerz, der seit ein paar Tagen an ihr nagte. Die Entscheidung war längst gefallen. Das Gesicht Arnons, wenn er schlief, verletzlich, nackt. Sein kindliches, schuldbewußtes Lächeln, wenn sie ihn drängte, ein frisches Hemd anzuziehen. Sein erstauntes Gesicht, wenn er ein Geschenk bekam. Seine Sehnsucht, zu füttern und zu wickeln. Die vollkommene Konzentration, mit der er neue Hölzer für die Firma auswählte, der zweifelnde Stolz in seinen blaugrauen Augen, wenn er von anderen gelobt wurde. Seine kleinen Ohren, rosafarben wie Muscheln, wenn er sich auf sie rollte. Wäre sie an jenem Morgen, der nun schon Jahre zurückzuliegen schien, im Auto sitzengeblieben, hätte das weder Freude noch Glück zur Folge gehabt, sondern Dutzende von Löffeln hätten in Teetassen geklirrt, und die Frage Wie, wie? hätte sich Tag für Tag gestellt. Hätte Blume Herschel die Tür geöffnet, statt ihn im Regen stehen zu lassen, hätte sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, was wäre dann passiert? Blume wäre nicht Blume, aber was hätte Herschel getan, mit seinem schwachen Willen, wenn er die Möglichkeit einer Verwirklichung gehabt hätte? Und sie selbst hatte niemand verheiratet, weder Zirl und Tojber auf der Erde noch Gott im Himmel. Sie hatte frei gewählt. Wenn ihre Mutter jetzt anriefe und ihr sagte, so wie sie es früher getan hatte, als sie ein Kind war, und wie sie es heute zuweilen noch tat: Erzähl mir was, du erzählst mir nie was, was könnte sie dann antworten? Wenn sie sagte: Es geht mir nicht gut, ich bin unruhig, der Käfig des Fleisches zittert, ich stehe am Scheideweg, würde das vollkommene Ablehnung auf der anderen Seite zur Folge haben. Wieso geht es dir denn nicht gut? würde die Mutter erschrocken und ungeduldig fragen. Du hast doch alles, alles , einen Mann und drei gesunde Kinder, unberufen, und eine wichtige und interessante Arbeit, die du liebst, Gesundheit, ein Haus. Es gibt Leute, die … Und wenn sie sagte: Meine Haare werden grau und fallen aus, die Haut an meinen Armen wird locker, ich fühle, daß dies die letzten Tage sind, an denen ich noch wählen kann, würde ihre Mutter mit kaltem Zorn antworten: Nun, so ist es nun mal, das Alter, bei allen. Oder: Du siehst sehr schön aus und hast noch viele Jahre vor dir, unberufen, du mußt nur auf dich achten. Schau mich zum Beispiel an …
    Wenn sie ihr von dem jungen Mädchen erzählte, würde es am anderen Ende der Leitung still werden, und dann erst würde ihre Mutter es wagen, langsam und vorsichtig Fragen zu stellen. Ob sie ihre Eltern kenne, ob sie sie auch angemessen bezahlten. Wenn sie die Fragen nicht so beantworten könnte, wie es sich gehört – selbst wenn sie die Antworten wußte –, würde sich das Gesicht auf der anderen Seite verdüstern, und die Zweifel würden förmlich aus der Telefonleitung fließen. Wozu das alles? würde sie am Schluß flüsternd fragen. Bist du gesund, Jolinka?
    Durch das Schlafzimmerfenster drangen von unten plaudernde Stimmen und Lachen herauf. Auf nackten Füßen schlich Jo’ela leise hinunter. Als sie auf dem Treppenabsatz zwischen dem ersten Stock und dem Erdgeschoß stand, hielt sie sich einen Moment lang am Geländer fest. Von draußen war Ja’aras Lachen zu hören, die Stimme Hilas, die sich mit ihr unterhielt. Der Augenblick war lang und

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