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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Kissen, das an der Wand lehnte. Ein vertrautes Gefühl stieg in ihr auf. Was brachte sie denn auf einmal dazu, eine sentimentale Liebesgeschichte zu lesen, in der es, wie sie meinte, um ein zufälliges Zusammentreffen in einem Badeort ging, eine Ferienliebe, die anhielt und immer komplizierter wurde. Warum die beiden nicht heirateten, hatte sie vergessen. Sie müßte sich eigentlich auf ihren Vortrag vorbereiten, aber eine gewisse Trägheit hielt sie davon ab, eine Trägheit, die davon herrührte, daß sich zwei Frauen, Freundinnen, unter einem Dach aufhielten und ruhig ihren Beschäftigungen nachgingen. Die Kinder waren in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft, und manchmal kam es ihr vor, als diene ihre Anwesenheit zu Hause nur dem Zweck, daß sie wußten, sie war zu Hause. Sie müßte jetzt eigentlich die Karteikarten heraussuchen, um den Vortrag vorzubereiten, aber sie lag hier so bequem auf dem Rücken, nahm ihren Körper, der mitten am Tag so gemütlich ausgestreckt war, mit einer neuen Aufmerksamkeit wahr und wußte selbst, daß sie eigentlich nicht krank war. Ihr Körper war groß und nicht mehr so mager, wie er es gewesen war. Früher, wenn sie auf ihrem Bett gelegen hatte, noch im Haus ihrer Eltern, waren ihre Arme und ihre Finger, die das Buch hielten, dünn wie Streichhölzer gewesen. Jetzt waren sie rund. Und sie hatte lange Beine. Früher hatte sie das Buch beim Lesen manchmal auf eine flache Brust gelegt, später auf kleine Hügelchen, und jetzt waren es plötzlich große, weiche Brüste, wie ihre Mutter sie gehabt hatte, bevor sie anfing zusammenzuschrumpfen. Erst hatte Jo’ela in dem Buch herumgeblättert, um die Stelle zu suchen, die Hila erwähnt hatte, und den Dialog zwischen Gurow und seinem Spielpartner zu lesen, dem Angestellten, mit dem zusammen er den Klub der Ärzte verließ. Gurow konnte sich nicht beherrschen und erzählte von der entzückenden Frau, die er kennengelernt hatte. Übrigens, sagte der Freund, Sie hatten doch recht: der Stör hatte einen Stich. Das geschah Gurow recht, er hätte sich zurückhalten müssen und nicht mit diesem Mann über Anna Sergejewna sprechen dürfen. Dann blätterte Jo’ela zum Anfang zurück und fing an, sehr langsam, nicht wie früher, als sie Bücher regelrecht verschlang, die Geschichte Gurows zu lesen, des vorsichtigen Schürzenjägers, der trotz seiner grauen Haare und seiner Vorsicht von seiner ersten, unheilbaren Liebe zu Anna Sergejewna gepackt wurde, einer jungen verheirateten Frau, unschuldig und unerfahren. Sie las von Gurows hochgewachsener Frau mit den dunklen Augenbrauen, hochmütig und selbstbewußt, die sich selbst für klug hielt, während er sie insgeheim als beschränkt, engstirnig und reizlos betrachtete, er fürchtete sie und hielt sich so wenig wie möglich zu Hause auf, betrog sie jahrelang, ohne daß irgend etwas passierte, bis er schließlich Anna Sergejewna traf. Nach seinem Urlaub in Jalta, wo sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, fuhr Gurow nach S., der Stadt, in der Anna Sergejewna lebte, stand vor ihrem Haus, an dem grauen Zaun, der das Grundstück umgab, wütend auf sich selbst wegen der unerklärlichen Anziehungskraft, wegen dieser Liebe zu einer »in der Provinzmenge verlorenen kleinen Frau« (Ne’ama hatte diese Stelle mit einem Bleistift angestrichen), aber er gab trotzdem nicht auf und sorgte dafür, daß er ihr im Theater zufällig begegnete. Als Anna nach Moskau kam, in die Stadt, in der Gurow lebte, trug sie das graue Kleid, das er an ihr so liebte. Sie erwartete ihn im Hotel »Slawischer Bazar«, wo sie sich nach jenem Abend im Theater immer trafen. Jo’ela las, wie sich Gurows Leben veränderte, wie das Geheime, Verborgene, im normalen Leben hinter Lügen versteckt, zum Wichtigsten wurde. Obwohl ausdrücklich und in großer Offenheit erzählt wurde, daß Gurow und Anna Sergejewna einander aufrichtig liebten, wie Mann und Frau, wie Vertraute, obwohl sie sich vorstellten, daß das Schicksal selbst sie zu Mann und Frau bestimmt hatte, waren sie in ihren eigenen Augen doch »wie zwei Zugvögel, die man gefangen hatte und zwang, in verschiedenen Käfigen zu leben« (diesen Satz, der ihrer Lehrerin wohl besonders wichtig war, hatte Ne’ama mit roter Tinte unterstrichen). Als Anna Sergejewna im Hotel »Slawischer Bazar« weinte, bestellte er Tee, und die drückende Last versuchte er mit dem Löffel wegzurühren. Mit Anna Sergejewna, die am Fenster gestanden und geweint hatte, fragte er: Wie, wie? und griff sich an

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