So habe ich es mir nicht vorgestellt
zugleich sehr kurz. Sie steht da, in ihrem Winterpyjama aus Flanell, dessen Hose man mit der Hand festhalten muß, weil das Gummi ausgeleiert ist, im dunklen Flur, und aus der Küche fällt gelbes, weiches Licht. Dieses Reden und Lachen, die Mutter lacht leise, Tante Sarah redet ununterbrochen, und beide schweigen, als sie in der Tür auftaucht.
Als Hila die Hintertür geschlossen hatte und nun im rückwärtigen Teil des Flurs stand, den man Pninas Zimmer nannte, fiel ihr plötzlich auf, daß sie sich hier noch nie lange aufgehalten hatte. Sie war höchstens einmal hineingegangen, um den Nähkasten zu holen, wenn sie während der Woche zu Besuch gewesen war. Zum ersten Mal saß sie nun im Schaukelstuhl an dem Fenster, das auf den Rasen hinter dem Haus hinausging, und schaukelte hin und her, hin und her, mit rhythmischen Bewegungen, von denen man behauptete, sie wirkten beruhigend, die aber in ihr eine besondere Unruhe hervorriefen, weil ihr plötzlich der Gedanke kam, die Schwellung unter ihrer Zunge sei vielleicht anders als bei allen anderen Menschen. Es wäre gut, wenn sie diese Stelle mit derselben Stelle unter Jo’elas Zunge vergleichen könnte, aber Jo’ela hatte sich hingelegt, und sie schämte sich, Ja’ara zu rufen. Sie legte sich auf das schmale Bett mit der harten Matratze, die Pnina mochte, aber als sie die Augen schloß, wurde ihre Angst immer größer. Deshalb stand sie schnell auf und machte sich erneut daran, das Regal mit den Büchern zu ordnen, spielte an den Knöpfen des alten Radios, das lange brauchte, bis es warm wurde, und als sie Stimmen in einer fremden Sprache reden hörte, stellte sie das Gerät leiser. Nun saß sie wieder im Schaukelstuhl und breitete das Kleid mit dem abgerissenen Saum, das zuvor zusammengefaltet auf dem Bett gelegen hatte und auf den nächsten Besuch Pninas wartete, auf ihren Knien aus und fädelte einen weißen Faden in eine Nadel, die sie in dem Strohkorb neben dem Radio gefunden hatte. Sie meinte das Telefon klingeln zu hören, legte den Kopf schräg, um besser zu hören, erhob sich aber nicht. Und wenn das Alex ist, der dich sucht, fragte eine leise Stimme in ihrem Inneren triumphierend und ängstlich. Schluß mit den Gedanken an Alex, der wählte, immer wieder, hartnäckig, und wissen wollte, ob sie da war, und Wellen von Sehnsucht und Bitterkeit stiegen in ihr auf. Sehnsucht wegen der kleinen Chance, daß doch noch etwas möglich sein könnte, und Bitterkeit wegen des Wissens, daß es nicht möglich war. Die ersten Monate, nachdem sie Alex kennengelernt hatte, waren vielleicht wirklich die schönsten ihres Lebens gewesen. In ihrer Erinnerung bestanden sie aus reinstem Glück, aus einem Staunen darüber, daß sie ihn gefunden hatte, daß er sie gefunden hatte. Immer wieder hatten sie es staunend zueinander gesagt, und daß das Leben hätte vergehen können, ohne daß sie sich kennengelernt hätten, andere Arten von Versäumnis konnten sie sich damals nicht vorstellen.
Es war eigentlich nicht so, daß dieses große Wunder, das sie von der ersten Minute ihres Zusammentreffens empfunden hatte, diese plötzliche Übereinstimmung von Körper und Seele, ganz erloschen wäre. Es war wohl eher so, daß ihre Kraft, die auftretenden Risse und Spalten immer abzudecken, langsam nachgelassen hatte.
Wegen Ein deutsches Requiem hatte Hila so viele Hoffnungen in Alex gesetzt.
Jahrelang hatte sie darauf gewartet, jemanden zu treffen, der sich für Trompeten genauso begeisterte wie sie. Sie stand vor dem Konzertsaal, in der Hand die überflüssige Karte. Sie achtete nicht einmal auf sein Gesicht. Er wandte sich in letzter Sekunde an sie, als sie bereits drauf und dran war, auf den Verkauf zu verzichten. Sie steckte den Geldschein ein, den er ihr gab, und rannte in den Saal, um die ersten Akkorde nicht zu verpassen. Der Saal war halb leer, und auf der Bühne standen ein paar Streicher, die ihre Instrumente stimmten und einige Worte miteinander wechselten. Er setzte sich neben sie, als die ersten Töne erklangen, und sein entschuldigendes Lächeln – er mußte sich an ihr vorbeidrängen, um zu seinem Platz zu gelangen – beantwortete sie damit, daß sie den Rand ihres Kleides anhob, um ihn vorbeizulassen. Sie war überhaupt nicht auf die Tränen gefaßt gewesen, die ihr aus den Augen liefen, als die Chöre mit langen, rhythmischen, leisen Tönen anstimmten: Alles Fleisch, es ist wie Gras. Sie bohrte sich beide Fäuste in die Wangen. Verwirrt und beschämt zog sie die Nase
Weitere Kostenlose Bücher