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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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hervorriefen. Hätte sie sich nicht schon vor Monaten zu diesem Vortrag in einer Klinik im Süden des Landes verpflichtet, wäre es Jo’ela vielleicht nicht eingefallen, in das fromme Dorf zu fahren, wohin man das Mädchen verbannt hatte.
    Hila hatte versucht, sie von dem Vortrag abzuhalten, ihn wegen Krankheit abzusagen, aber als ihr klar wurde, daß Jo’ela diesen Vortrag halten wollte, beschloß sie, einen alten Plan, aus dem bisher nichts geworden war, zu verwirklichen und mitzufahren: In einer nahegelegenen Stadt wollte sie eine Frau aufsuchen, die sich in Seelenwanderung auskannte, und machte auch gleich einen Termin mit ihr aus, um zu erfahren, ob sie in einem früheren Leben vielleicht an einer unheilbaren Krankheit gelitten hatte und ob diese wiederkommen könne. Als Jo’ela das Gesicht verzog, hatte Hila fröhlich bemerkt: »Deine Verrücktheit und meine Verrücktheit, und beide hübsch begründet durch eine Notwendigkeit.«
    Wegen des kühlen Tons, sachlich und interessiert, den Jo’ela ohne Anstrengung gefunden hatte, damit er nicht merkte, wie dringend sie die Auskunft begehrte, erfuhr sie die genaue Adresse. Es wunderte sie nicht, daß man das Mädchen so weit weggeschickt hatte. »Nur für einige Zeit«, sagte der Rabbiner in frömmelndem Ton und beeilte sich hinzuzufügen: »Nur zu ihrem Besten.« Und nicht ihr Zorn wunderte sie, lediglich seine Intensität. Sie mußte ihn verbergen, mußte so tun, als akzeptiere sie seine Argumente und glaube ihm, daß alles nur zum Besten des Mädchens geschehen sei. »Nach allem, was ihr in den letzten Tagen passiert ist, ist es besser, sie wegzuschicken, bis man weiß, was zu tun ist.« Ein Teil ihres Bewußtseins, schlau und nüchtern, bestimmte den Ton der Unterhaltung: ruhig, fast gönnerhaft und interessiert, das war der Ton, zu dem Ausdrücke gehörten wie »Aha« und »Ja, ja« und »Hm«. Diese verlogene Selbstbeherrschung kam ihr vertraut vor, einen ähnlichen Ton hatte sie sich als Kind selbst beigebracht und ihn ausgefeilt, um vor ihrer Mutter die wahren Motive ihres Handelns zu verbergen. Jahre waren vergangen, in denen sie diesen Ton nicht nötig gehabt hatte, und es war ein seltsamer Gedanke, wie leicht sich alte Fertigkeiten wieder verwenden ließen, wie in ihrer Kindheit, ohne schlechtes Gewissen, als gehe es nur darum, sie auf bestmögliche Art zu benutzen. Und es war erstaunlich, mit welcher naiven Aufrichtigkeit ihr der Rabbiner antwortete. Einen solchen Erfolg hatte sie bei ihrer Mutter nie erreicht. Die reagierte auf jedes Wort mit ihren ewigen zweifelnden Blicken. Vielleicht war sie aufgrund der alten Erfahrungen bei dem Rabbiner so erfolgreich. Wegen der unzähligen Prüfungsvorbereitungen, um gelassen
    zu klingen, um nicht zu stottern, sich nicht zu versprechen, um schließlich doch nachzugeben – und alles ohne zu ahnen, ob die Mutter Bescheid wußte oder nicht. Auch heute noch hatte ihre Mutter diesen mißtrauischen Blick, nun ein verschwommenes Blau wegen des grauen Stars. Die Gutgläubigkeit des Rabbiners, der ihr die genaue Adresse nannte und sogar den Namen der Familie, bei der sich das Mädchen aufhielt, diese Naivität eines Menschen, der im allgemeinen alles andere als naiv war, warf ein scharfes Licht auf ihren eigenen Wahnsinn. Er fand also nichts dabei, daß eine Ärztin in ihrer Stellung ein junges Mädchen durch das ganze Land verfolgte, einfach so. Der andere Teil ihres Bewußtseins, der auf den unterschwelligen Ton achtete, unterhalb der Rechtfertigung, spürte eine große Welle aus Ekel und hilflosem Zorn bei dem Gedanken, wie schnell sie es geschafft hatten, das Mädchen zu verstecken, sie zu verbannen, um die Aussichten der anderen Mädchen nicht zu verderben. Sie sahen in ihr eine Art Quasimodo. Ihr unbekanntes Gebrechen rief ihr Entsetzen hervor.
     
    Wie viele Jahre waren vergangen – ihr kam es vor wie eine Ewigkeit –, seit sie das letzte Mal geweint hatte, einfach so. Hatte sie jemals an einem normalen Werktag im Bett gelegen, ohne krank zu sein, die Hände müßig in den Schoß gelegt, die Augen geschlossen? Ohne daß ihr etwas weh tat, weder der Kopf noch der Körper, sogar ohne müde zu sein, einfach nur so. Das Problem, wenn man einfach so im Bett lag, war, daß sich alle möglichen bedrückenden Gedanken einschlichen, Gedanken ohne Anfang und Ende, Gedanken, die zu nichts führten. Jedesmal, wenn sie überlegte, welches Interesse sie an dem Mädchen hatte, hatte sie das Gefühl, in Dunkelheit zu

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