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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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versinken.
    Hila fragte ausdrücklich: »Warum willst du zu ihr in dieses Dorf fahren, man wird dich dort wegjagen, wie man dich aus Me’a Sche’arim weggejagt hat.« Sie antwortete ihr, was sie Arnon geantwortet hätte, wenn er sie gefragt hätte (bestimmt hätte er bestürzt reagiert, so wie er vorgestern, als sie ihm von dem russischen Heiler erzählt hatte, bestürzt reagiert und sofort gesagt hatte, er spreche von einem Feldtelefon aus, und die Warteschlange sei sehr lang).
    »Ich lasse es nicht zu«, antwortete sie Hila, ohne zu zögern.
    »Was läßt du nicht zu?« wollte Hila wissen.
    »Ich lasse es nicht zu, daß sie das Mädchen einfach wegschicken, sie sollen wenigstens Angst haben, Gottesfurcht, und außerdem kann ich sie dort, von Angesicht zu Angesicht, vielleicht überzeugen.« Doch sie war selbst erschrocken über den Enthusiasmus, mit dem sie »Ich lasse es nicht zu« gesagt hatte, denn insgeheim wußte sie, daß dies nicht der Punkt war. Der Impuls, das Mädchen wiederzusehen, sie zu berühren, ihre Stimme zu hören, hatte nichts damit zu tun, was sie zulassen würde oder nicht, sondern mit Anziehung, mit einer Kraft, die aus anderen Bereichen wuchs. Diese Kraft, die sie antrieb, war verwirrend und bedrohlich, vor allem wenn man auch an Jo’el dachte, und ganz besonders nach dem Gespräch mit der Reflexzonentherapeutin, die diesen Blödsinn gesagt hatte, an den Fußsohlen gäbe es Stellen, die den Trieben entsprächen. Die Argumentation, ein verkrampfter kleiner Zeh sei ein deutliches Zeichen für unterdrückte Triebe – etwas Blöderes konnte man sich doch nicht vorstellen, obwohl man natürlich anerkennen mußte, daß es unterdrückte Triebe gab. Vielleicht konnte man die Gedanken zwingen, sich in Reih und Glied aufzustellen, damit einer sich aus dem anderen ergäbe, damit eine gewisse Logik in den Ablauf käme. Zum Beispiel die Frage, ob sie ein triebhaftes Wesen sei und ob ihre Triebe, nur einmal angenommen, sie seien unterdrückt, sich dann zwangsläufig einen Ausgang verschafften? Offen? Heimlich? Direkt? Auf Umwegen? Wenn es im Inneren lauernde Triebe gab und man sie tagtäglich mit den Füßen trat, konnte es dann nicht sein, daß sie einfach aufgaben und langsam versteinerten? Wie anders ließ es sich sonst erklären, daß sie ihre Existenz nicht spürte? War es wirklich vorstellbar, daß es eine begrenzte Menge Triebenergie gab, die sie auffraß, nur weil sie auf einem Gebiet arbeitete, das nichts mit Trieben zu tun hatte? Konnte man, ohne der Gefahr einer allzu großen Simplifizierung zu unterliegen, wirklich glauben, daß ihre Triebenergie ihre Arbeit unmöglich machte und sie diesen Ausweg suchte? Warum mußte sie, wenn sie an ihre Arbeit und an ihr Leben mit Arnon dachte, immer Staudämme sehen? Hieß das, daß sie ihre Arbeit oder Arnon nicht liebte? Das stimmt gar nicht, schrie eine Stimme in ihr, du liebst deine Arbeit, und du liebst Arnon, und die Frage, was Liebe ist, stellt sich hier nicht, es ist Liebe, schließlich ist es dir jahrelang gutgegangen. Gut? mischte sich eine andere Stimme ein, eine bläuliche. Was war schlimm an diesem Ausweg? Doch wenn dieser Ausweg fehlerfrei war, in welche Lücke war dann das junge Mädchen gestoßen? Und Jo’el? »Jemand hat ein paarmal nach dir gefragt«, hatte Ja’ara gestern gesagt, »ein Mann, keine Frau, und er hat nicht Doktor Goldschmidt gesagt, sondern Jo’ela, und ich habe gesagt, du hättest frei, aber morgen wärst du wieder da, ist das in Ordnung? Was soll ich sagen, wenn ich gefragt werde, daß du frei hast oder daß du krank bist?«
    Wegen der Bemerkung, die Hila vor zwei Tagen gemacht hatte, hatte Jo’ela die Geschichten von Tschechow mit ins Zimmer genommen, und weil sie in dem grünen Band »Die Dame mit dem Hündchen« nicht fand, holte sie sich aus Ne’amas Zimmer auch noch die Schulausgabe, und jetzt blätterte sie die Geschichte durch, die sie als rührende Liebesgeschichte in Erinnerung hatte, von einer Frau in einem grauen Kleid und ihrem Spitz.
    Hinter ihren fest zugedrückten Augen stand das junge Mädchen, wortlos flehend, mit gesenktem Kopf. Schlafen ging nicht, einfach so, mitten am Tag, wenn Hila unten war, im Zimmer der Mutter. Zwei Frauen und zwei Kinder waren im Haus, die Männer waren in ihren eigenen Angelegenheiten unterwegs, sie würden wiederkommen. Inzwischen konnten sich die Frauen ausruhen. Ein Buch lag aufgeklappt auf Jo’elas Bauch, wie früher, in ihrer Kindheit, ihr Kopf ruhte auf dem dicken

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