Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
das hohe Gurkenglas mit den Gerbera auf dieMarmorplatte stellt, so daß sich die Blumenstengel den eingravierten Buchstaben zuneigen. Wenn sie sich einen Moment auf den Steinrand setzt, mahnt ihre Mutter, daß man sich hier nicht hinsetzt, als könne sich dieses Sitzen ausdehnen, bis es zur endgültigen Ruhe würde. Jo’ela versucht, sich daran zu erinnern, wie ihr Vater in ihrer Kindheit gewesen war, und die ewige Klage ihrer Mutter, wie vernachlässigt alles sei, verwischt das Bild, statt dessen taucht ein anderes auf, das Bild des Kranken, der weiß, daß er sterben wird, und nichts sagt.
    Jedes Jahr legen sie einen Stein auf die Grabplatte, jedes Jahr berühren sie mit feuchten Fingern die eingravierten Buchstaben, schütteln die Köpfe über die Schwärme von Mücken, die aus den Pflanzen aufsteigen, nicken, wenn ein magerer bärtiger Mann hinter einem der Gräber auftaucht und sich mit leiser Stimme erkundigt, ob sie die Leute seien, die einen Chasan bestellt haben, an seinem langen, vom vielen Tragen glänzenden schwarzen Mantel zieht, sich an die Mutter wendet und flüsternd nach den Namen der Kinder und Enkel fragt, weil er nach dem Kaddisch noch ein Gebet spricht, für das Wohlergehen der Kinder und Enkel – immer wartet er, bis die Mutter nervös und in der Reihenfolge der Geburt die Namen der Kinder und Enkel wiederholt, wobei er bei jedem Namen nickt, als seien ihm die Personen völlig geläufig, als kenne er jeden einzelnen persönlich –, und wenn er fertig ist, nachdem ihm die Mutter unauffällig einen Geldschein in die ausgestreckte Hand gedrückt hat, blickt er sich nach allen Seiten um, senkt er den Kopf und verschwindet. Und jedes Jahr nimmt ihre Mutter Jo’ela an der Schulter und bedeutet ihr, nicht auf dem Weg zurückzugehen, auf dem sie gekommen sind, sondern auf einem anderen, parallel dazu, und dann dreht sie sich noch einmal um und betrachtet die beiden Steine, die sie hingelegt haben. Auch dieses Jahr wird sie so stehen und sich klarmachen, daß sich eine Konfrontation nur wegen einer Stunde im Jahr nicht lohne und daß es hier nicht um sie gehe, sondern um ihre Mutter und auch um die richtige Ordnung der Dinge.
    »Vielleicht könnten auch die Mädchen …«, fragte Pnina vorsichtig.
    »Das kommt nicht in Frage. Als ich vor zwei Jahren Ja’ara mitgenommen habe, hat es mich hinterher einen ganzen Tag gekostet, ihr klarzumachen, daß er nicht wirklich dort liegt, unter der Erde, und als sie auf den leeren Teil daneben getreten ist, den, der für … Da hast du zu ihr gesagt, sie soll nicht auf dir herumtreten.«
    Pnina seufzte.
    »Ich muß jetzt die Kinder wecken«, sagte Jo’ela, »ich muß mich beeilen. Ich rufe dich später an.«
    »Wann ist das, später?«
    »Bald«, versprach Jo’ela. »In einer halben Stunde.«
    »Weil ich doch noch zum Einkaufen muß«, entschuldigte sich Pnina. »Auch darüber wollte ich mit dir sprechen: Soll ich für die Kinder Frikadellen aus Hühnerfleisch machen oder aus Rind?«
    »Wie du willst … aus Hühnerfleisch.«
    Das Haus leerte sich, und am Küchentisch saß Hila mit halbgeschlossenen Augen und trank ihren Kaffee. Sie blickte Jo’ela an, und Jo’ela erschrak über das Aufleuchten in ihren Augen beim Anblick des engen elfenbeinfarbenen Kleides und der weißen Pumps mit den niedrigen Absätzen. »Du siehst sehr schön aus«, sagte Hila. »Vielleicht vergrößerst du dir noch mit ein bißchen Schminke die Augen?« Das war ein klares Zeichen dafür, daß Hila sich selbst für nicht ausreichend angezogen hielt, und es lohnte sich auch nicht, ihr etwas aus dem eigenen Kleiderschrank anzubieten, wegen der Größe, und deshalb betrachtete sie das schwarze ausgeschnittene Kleid mit den lilafarbenen Blumen und sagte: »Willst du die weiße Kette, die mit dem Silber?«
    »Geben wir dem Kaiser, was des Kaisers ist«, murmelte Hila, »und nehmen wir selbst den Apfelbutzen.«
    Jo’ela seufzte. »Ist das nicht in Ordnung, was ich anhabe?«
    »Im Gegenteil. Und das alles für einen einzigen Vortrag.« Hila musterte ihre Beine. »Im Gegenteil. Du solltest immer Kleider tragen, da gibt es nichts zu meckern, vielleicht treffen wir unterwegs ja auch jemanden.«
    Das war nur eine freundlich gemeinte Bemerkung, doch Jo’ela erschrak bei dem Gedanken, Hila könnte vielleicht etwas erraten. Hila wandte sich wieder ihrem Kaffee zu, sie ahnte offenbar wirklich nichts, trank einen Schluck, hob dann ihre Leinentasche auf den Schoß und holte das Schminktäschchen

Weitere Kostenlose Bücher