So habe ich es mir nicht vorgestellt
Kristallisierung und die Art des Abbrechens – und wie Sie sich selbst aus allen möglichen Situationen herausnehmen.«
Zweimal schrie ein Rabe, anhaltend und so laut, als befände er sich im Zimmer, direkt neben der Durchreiche.
»Und an diesen Dingen gibt es keine Zweifel?« fragte Hila an ihrer Stelle.
»Nein!« verkündete die andere Stimme mit entschiedenem Stolz. »Das kommt alles aus meinem Inneren, aus mir … und nicht aus mir, aus dem, was ich mitbekommen habe …«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, dann fuhr die heisere Stimme mit dem schwungvollen Vortrag fort: »Probleme bei der Ablösung, dieser ersten Geburt, beeinflussen unser ganzes Leben. Diese Ablösung ist traumatisch. Die Frage ist nur, in welcher Dosierung welche Frustrationen die Seele nach dem Herausbrechen begleiten … Die Situation draußen entzündet eine bereits vorhandene Zündschnur, so daß das Gefühl schon bekannt ist …«
Wieder breitete sich Schweigen aus. Jo’ela neigte den Kopf und versuchte, das Gesicht der Sprecherin oder das von Hila durch die Durchreiche zu sehen, aber dafür hätte sie aufstehen, sich davor hinstellen und ihre Anwesenheit demonstrieren müssen, die von den beiden in der Küche offenbar vergessen worden war, und wenn sie dieser Frau dort zeigte, daß sie da war, würde sie, wie Jo’ela plötzlich fürchtete, äußerst mißvergnügt reagieren. »Nach der Ablösung befindet sich die Seele außerhalb der Energie, der ersten Orientierung, und das zeigt, wie Sie sich einer feindlichen, verzerrten Welt stellen, wie Sie sich unbekannten Dingen gegenüber verhalten, Orientierung …«
Jo’ela hatte keine Lust mehr zuzuhören. Sie legte ihre Karteikarten auf einen Haufen und sah sich die Ölbilder an. Ein Bild, das nicht weit von dem Alten hing, war ein bunter Mischmasch auf einer riesigen, nicht gerahmten Leinwand. Woher konnte man eigentlich wissen, ob etwas schön war oder nicht?
»Das dritte Auge, das jeder Mensch hat«, sagte die heisere Stimme in der Küche.
Hila murmelte etwas.
»Das ist der erste Abschnitt«, seufzte die Frau und sprach langsam weiter: »Im zweiten Abschnitt geht es um die Wahl selbst. Okay. Ich bin hervorgegangen, ich bin herausgebrochen, um eine bestimmte Idee zu verwirklichen, welchen Abschnitt innerhalb der Idee werde ich verwirklichen? Der Anfang der Wahl ist wie ein symbolisches Bild, und die Erklärung kommt unter der Überschrift.«
»Wenn Sie sagen, ein symbolisches Bild …«, sagte Hila zögernd.
»Ich weiß nicht, was Sie sehen«, erklärte die Frau schnell. »Ich will es auch nicht wissen … Vielleicht sehen Sie ein Bild, das die Fortsetzung eines früheren Lebens ist, vielleicht auch einen Teil des Ziels … In den meisten Fällen wissen die Seelen nicht, zu welcher Bestimmung sie sich in einem Körper materialisieren. Die Seele ist Energie, Antimaterie. Wenn Antimaterie auf Materie trifft, wird die Materie isoliert und unterliegt nicht mehr ihrem ursprünglichen molekularen Aufbau. Das heißt, daß die Materie durch die ursprünglichen chemischen Eigenschaften der Antimaterie reduziert und der Prozeß durcheinandergebracht wird. Deshalb gibt es das Problem von ›Wassollichhiereigentlichtun‹. Nicht, daß die Seele es nicht weiß. Sie erinnert sich einfach nicht daran. Im Dickicht der Materie erinnert sie sich nicht.«
Ausgerechnet das Wort »molekular« und das Gerede über Materie und Antimaterie ließen Jo’ela nicht mehr gehorsam sitzen bleiben, sie stand auf und näherte sich mit leisen, vorsichtigen Schritten der Durchreiche zwischen Eßecke und Küche. Dort saß Hila, das Kinn auf die Hand gestützt – ihr Silberarmband war fast bis zum Ellenbogen gerutscht –, und ihre Augen hingen, wie Jo’ela befürchtet hatte, an der Frau, die mit halbgeschlossenen Augen, fast als schliefe sie, vom »dritten Abschnitt« berichtete und mit ihrem silberlackierten Fingernagel einen Kreis auf die braune Tischplatte zeichnete, bevor sie von den »Uhren der Seele« anfing. Hila verfolgte gespannt jede ihrer Bewegungen. »Das ist«, sagte die Frau, räusperte sich und machte die Augen auf, »als nähme man die Seele, teilte sie in vier Teile, und jedes dieser Viertel zeigte einen vollen Ausschnitt vom Wesen der Seele. Die erste Uhr, die Hauptuhr, sind die Werkzeuge im Vergleich zum Potential.« Sie zählte noch drei Uhren auf und sprach von Potential im Vergleich zu Werkzeugen, von erworbenem Wissen und der Nullstellung des Lebens. Auf der anderen Seite des
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