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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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stehen. Und dort, vor den erstaunten Augen ihrer Mutter, stößt sie mit abgehacktem Atem hervor: Der Mann … der Mann … Sie weiß, daß es nicht die Angst ist, die sie dazu gebracht hat, den ganzen Weg zurückzurennen, sondern eine Art Stolz, dessen Quelle in etwas Geheimnisvollem liegt, das sie besitzt, auch wenn sie nicht weiß, was es ist. Noch bevor sie das blasse Gesicht ihrer Mutter dicht vor sich sieht, weiß sie, daß das, was ihr passiert ist, ihren Eltern große Angst machen wird. Daß es sie dazu bringen wird, mit weichen Stimmen zu ihr zu sprechen und all ihre Bewegungen besorgt zu beobachten, als sei etwas Schlimmes mit ihr geschehen. Ein Mann … da war ein Mann … in der Bücherei – er … hat … meinen Mantel … angefaßt … und er hat … gesagt … er wäre … schön, und dann … wollte er sehen, was … ich … drunter anhabe.
    Es fällt ihr schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, denn diesmal ist ihr etwas Wichtiges passiert, etwas, das zählt, und tatsächlich bewölkt sich das Gesicht ihrer Mutter, und sie wendet sich mit großer Zartheit zu ihr, bevor sie den Vater erschrocken und vorwurfsvoll anschaut, der genau in diesem Augenblick von der Arbeit nach Hause gekommen ist und nun, ebenfalls schwer atmend, neben dem Mädchen steht. Für einen Moment hat sie das Gefühl, sie könne wieder in seine Arme springen, wie als kleines Kind, und ihn fragen, was er ihr mitgebracht habe. Doch der Moment geht vorbei, und sie läßt sich von ihm einen Kuß auf die Wange drücken. In der fremden Sprache, die sie immer benutzen, wenn sie nicht wollen, daß sie sie versteht – von der sie aber schon längst jedes Wort begreift –, fragt die Mutter den Vater, mit gesenkten Augen, ob ihm klar sei, was der Mann gewollt habe. Der Vater wird blaß, sein Mund öffnet und schließt sich wieder, er blinzelt. Die Mutter erkundigt sich in betont beiläufigem Ton, ob das alles gewesen ist, ob der Mann nur ihren Mantel befühlen wollte.
    Und … was … ich … drunter … anhabe, erklärt das Mädchen stolz, denn sie hat das Gefühl, der Schreck würde um so größer, je mehr Details sie vorbringt. Sie überlegt auch, ob sie Dinge hinzufügen soll, die nicht geschehen sind, aber sie weiß nicht genau, was das für Dinge sein müßten, um bei ihren Eltern die ersehnten besorgten Blicke hervorzurufen und sie für einen kurzen Augenblick wieder zu ihrem kleinen Mädchen zu machen. Sie weiß nur, daß dieser Mann vermutlich etwas Verbotenes gewollt hat, aber gewalttätig ist er nicht gewesen. Ihr ist klar, daß man nun von ihr Verwirrung erwartet, Angst und Abscheu vor diesem Mann, doch der Gedanke daran, wie er ihren Mantel gestreichelt hat, weckt in ihr nur eine leichte Angst, die überdeckt wird von dem Stolz und dem Wissen, daß alles andere nun unbedeutend ist.
    Aber trotzdem gehen sie ins Kino. Sie haben Angst, doch sie gehen weg. Sie sieht, daß sie Angst haben. Zweimal kommen sie an ihr Bett und schauen nach, ob sie richtig zugedeckt ist, und sie haben vergessen, nach dem Duschen ihre Kniekehlen zu kontrollieren. Dort wachsen Kartoffeln, wenn man sich nicht richtig einseift. Sie glaubt nicht, daß wirklich Kartoffeln wachsen, hätte aber gerne gewußt, was passiert, wenn man sich nicht gründlich mit Seife wäscht. Heute hätte sie nur die Gegend um die Dusche ein bißchen naß zu machen und zu behaupten brauchen, sie hätte wirklich geduscht – sie hätten es nicht bemerkt. Doch ausgerechnet heute wäscht sie sich so gründlich, wie es sich gehört. Ohne den Kopf. Es fällt ihnen nicht auf. Dienstags und freitags macht die Mutter die Zöpfe auf, zerkratzt mit ihren Nägeln die Kopfhaut und kämmt sie dann noch lange. Dann weint sie, und ihre Mutter, die hinter ihr auf dem Sofa sitzt und immer wieder mit dem Kamm durch die Haare fährt, schweigt, ist taub gegen ihr Weinen und ihre Klagen. Heute ist die Prozedur ausgefallen. Auch die Hausaufgaben wurden nicht erwähnt. Die Mutter mußte noch das Geschirr spülen – es ist schon acht, und du bist noch nicht angezogen, sagte der Vater –, dann noch zweimal den Küchenfußboden wischen, wie jeden Abend, erst dann machte sie sich zum Weggehen zurecht.
    Es ist ihr egal, daß sie weggegangen sind und sie allein geblieben ist. Trotzdem wird sie immer bedrückter, als ihr klar wird, daß sich nichts geändert hat. Etwas Unverständliches ist geschehen. Sie hatten Angst, aber sie sind ins Kino gegangen, und keiner hat mehr den Mann erwähnt, als hätte es ihn

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