So habe ich es mir nicht vorgestellt
verzichtet auf die Prüfung und reicht ihr mit einem Seufzer das Buch, das neben ihm auf der Theke liegt. Die Druckbuch-staben auf der ersten Seite sind breit und dunkel. Damals wußte sie noch nicht, daß ein Apostroph über einem Buchstaben bedeutet, daß man ihn anders ausspricht, deshalb las sie als Titel »Bug Jeragel« (Anm.: Der erste Roman von Victor Hugo über einen Sklavenaufstand in Santo Domingo). Sie blättert schnell die Seiten durch, um sicherzugehen, daß kein Platz mit Zeichnungen vergeudet ist, und atmet erleichtert auf, als sie nur zwei Illustrationen entdeckt. Der rote Einband zeigt ihr sofort, daß das Buch neu ist und Josef noch keine Zeit gehabt hat, es in das graubraune Packpapier einzubinden. Bei Frau Desirée sind die Bücher manchmal in dünnes braunes Papier eingebunden, und wenn man die Ränder anhebt und darunterschielt, kann man den ursprünglichen Einband erkennen, aber in der Bibliothek Bialik ist das ausgeschlossen, weil Josef sofort einen neuen, festen Einband daraufklebt, angeblich, um das Buch zu schützen. Aber sie weiß, daß er es deshalb tut, damit die Kinder nicht das Bild auf dem Einband sehen und das Buch danach aussuchen.
In der Halle steckt sie das Buch unter ihren Mantel und nimmt sich fest vor, nicht vor dem Abend mit dem Lesen anzufangen, doch kaum hat sie die Halle verlassen und ist durch die weißen Holztüren gegangen, kann sie sich schon nicht mehr beherrschen und schlägt die erste Seite auf. Ihre Füße ertasten die bekannten Winkel und Biegungen der Treppe, und nur wenn eine Treppe aufhört und die andere beginnt, muß sie aufpassen. Als Kapitän Léopold d’Auverne seine Gäste anblickt und bekennt, er wisse kein Ereignis aus seinem Leben, das es wert wäre, anderen erzählt zu werden, weiß sie sofort, daß er etwas sehr Wichtiges zu erzählen hat. Man muß ihn nur überreden, daß er es tut. Wie ist das möglich, Kapitän? fragt der Offizier Henrie. Wie viele Seiten wird es dauern, bis sie ihn überredet haben, und welche Geschichte wird er erzählen, dieser Kapitän Léopold d’Auverne? Und was bedeutet der Strich auf der Tür?
Sie geht ganz nahe am Steingeländer und hebt den Blick nicht. Sehr langsam steigt sie die Treppe hinunter und wäre fast mit dem Mann zusammengestoßen, der ihr entgegenkommt. In den Jahren danach versucht sie, sich zu erinnern, wie er ausgesehen hat, was für ein Gesicht er gehabt hat, aber die Erinnerung verschwimmt, und zurück bleibt nur eine großgewachsene Gestalt, ein Mann ohne Gesicht, von dem sie später glaubt, er habe einen langen, dunklen Mantel getragen, obwohl sie nie ganz sicher ist, ob das stimmt oder ob sie sich den Mantel nur eingebildet hat. Als sie vor ihm steht, lächelt er sie an und sagt – noch jahrelang erinnert sie sich an die Worte, allerdings nicht mehr an den Klang seiner Stimme: Muß man jetzt schon lesen? Kann man nicht warten, bis man zu Hause ist?
Das Mädchen lächelt verwirrt, als habe man sie bei etwas Schlimmem ertappt. Das ist nicht … das ist nur …, stottert sie aufgeregt. Nur selten wird sie von Erwachsenen angesprochen, die sich, ohne prüfendes Mißtrauen, für das interessieren, was sie tut.
Was ist das für ein Buch? will der Mann wissen.
Sie stehen mitten auf der Treppe zum ersten Stock. Das Mädchen lehnt sich an das steinerne Geländer, der Mann ist stehengeblieben. In diesem Moment versteht sie noch nicht, daß er ihr den Weg versperrt, sie meint, er sei einfach stehengeblieben, um mit ihr zu sprechen. Ihre eine Hand liegt auf der Marmorplatte oben auf dem Geländer, mit der zweiten hält sie das Buch umklammert.
Es heißt »Bug Jeragel«, sagt sie verlegen und ernst, denn ihr ist klar, daß vor ihr ein Mann steht, der Bücher liebt, doch sie hat auch Angst, er könne glauben, daß sie sich nur verstelle, deshalb erklärt sie schnell, sie habe es gerade erst bekommen und könne deshalb noch nicht sagen, was drinstehe. Er hat es mir jetzt gerade gegeben, sagt sie mit einer Kopfbewegung hinauf zur Bibliothek und verrät damit dem Fremden die Art ihrer Beziehung zu Josef, dem Bibliothekar.
Du liest wohl viel, sagt der Mann freundlich, und das Mädchen, das bereits gelernt hat, daß gerne lesen in den Augen der Erwachsenen eine gute Eigenschaft ist, bemüht sich nach Kräften, die Tatsache zu verbergen, daß sie nur deshalb liest, weil sie lesen muß, weil sie den ganzen Tag nur auf den Moment wartet, an dem sie zu ihrem Buch zurückkehren kann, denn nur dann darf sie etwas
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