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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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zurücklegen, denn die Straße ist abschüssig und endet direkt an dem Platz, auf dessen einer Seite sich das Kino befindet und auf der anderen die öffentliche Bücherei, die den Namen Chaim Nachman Bialiks trägt, dessen Es wird kommen der Tag sie auswendig kann, so wie sie das Bild seines runden lächelnden Gesichts kennt, das über dem grauen Kopf Josefs, des Bibliothekars, hängt. Aus irgendwelchen Gründen hat ihr das Lächeln nie gefallen, vielleicht weil Josef unter ihm niemals lächelt, aber die Geschichten von Es wird kommen der Tag liebt sie sehr. Heute hat sie den ersten Aufsatz ihres Lebens schreiben müssen, über Bachstelzen, und auf dem ganzen Weg zur Bücherei meint sie das Wort »Aufsatz« zu hören, drohend und mit dem Hinweis auf verwirrende Unwissenheit. Noch nie hat sie Bachstelzen gesehen, nur gemalte. Als die Naturkundelehrerin auf den Vogel gedeutet hat, der neben dem großen Platz aufflog, hat sie begeistert mit dem Kopf genickt und getan, als hätte sie ihn gesehen. Die Naturkundelehrerin hatte so ein fröhliches Glitzern in den Augen, ein Grün über dem Braun, aber nur die anderen Kinder hatten den Vogel wirklich gesehen.
    Wenn man rennt, hüpft die Brille, die Zöpfe schlagen gegen den Rücken, und der schwarze Wollmantel wird schwerer, und wenn es dann noch so heftig regnet wie jetzt, wird der Geruch nach nasser Wolle stärker als der Naphthalingeruch. Wegen des Aufsatzes über Bachstelzen, wegen der beginnenden Dunkelheit und auch, um mehr Zeit zum Lesen zu haben, rennt sie den ganzen Weg hinunter, auf der Straßenseite, wo keine Geschäfte sind. Sonst geht sie oft auf der gegenüberliegenden Seite und guckt sich die Schaufenster an, vor allem das der Parfümerie Tausig. Dort hängt ein großes Foto, das Gesicht einer Frau unter einem weißen Turban. Ihre rosafarbenen, feuchten Lippen sind leicht geöffnet, und vor dem Foto stehen ganze Reihen vergoldeter Lippenstifte und eine Tafel, auf die glatte, lackierte Fingernägel geklebt sind, dazu viele Fläschchen Nagellack in allen möglichen Abstufungen von Rosa und Rot und sogar in Silber, und aus einer großen, wie eine dicke Orange geformten Flasche hängt ein Gummiball heraus. Auf der Straßenseite ohne Geschäfte kommt sie an einem kleinen Feld voller Beete vorbei, wo sie Unterricht in Landwirtschaft bekommen haben, und jedesmal, wenn sie hier vorbeigeht, schaut sie über den Stacheldrahtzaun und seufzt bei dem Gedanken an die Stunden, die sie gehaßt hat, auch weil sie schon im voraus wußte, daß das, was sie sät, nicht aufgehen wird. Soweit sie sich erinnert, hat sie ihre ganze Zeit damit zugebracht, Steine zu entfernen, den Boden umzugraben und in der Sonne Unkraut zu jäten, denn es kam nie soweit, daß sie grüne Zwiebeln säten, von denen die Kinder behaupteten, die Großen, die Schüler der achten Klasse, dürften sie dann ernten.
    Die große hölzerne Eingangstür knarrt. Im Treppenhaus der Bibliothek Bialik brennt schon Licht, und sie hüpft rasch die glatten Stufen hinauf, obwohl sie weiß, daß es wegen des Regens und der Dunkelheit keine lange Warteschlange geben wird. Ihr kommt es vor, als blicke Josef sie noch mißtrauischer an als sonst, und mit Abscheu sagt er, zweimal an einem Tag sei ausgeschlossen. Der Weg, den sie gerannt ist, und das Wissen, daß zweimal am Tag sehr wohl geht, wenn man es nur will, macht sie noch zorniger als sonst, und sie nimmt sich vor, ihm diesmal alles zu sagen, was sie auf dem Herzen hat, doch vorerst, zur Sicherheit und wegen der wenigen Köpfe, die über die braunen Holztische im Lesesaal gebeugt sind, lauscht sie seinen schweren, hastigen Atemzügen und seinen bekannten genäselten Worten und wirft ihm nur einen Blick zu, in den sie all ihre Gefühle wegen seines ungerechten und verächtlichen Verhaltens ihr gegenüber zu legen versucht. Sie hofft, ihn allein durch die Kraft ihrer Augen vielleicht dazu zu bringen, daß er ihr ein Buch gibt, obwohl, wie sie fürchtet, die Kraft des wortlosen Verständigens durch die Brille geschwächt wird, und deshalb zählt sie auch innerlich – wie sie es von ihrer Lehrerin gelernt hat – bis fünfzig. In dieser Zeit verschwindet die Kraft aus ihrem Blick und verwandelt sich in Flehen, sie spürt es genau, und schließlich flüstert sie auch noch verzweifelt: Aber ich habe das Buch fertig, und ich habe nichts mehr zu lesen, und die andere Bücherei hat zu.
    Josef blickt sie mit schiefen Lippen und gesenktem Kopf an, wirft einen Blick auf seine Uhr,

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