Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
nie gegeben – dabei war er vor kurzer Zeit noch das Wichtigste überhaupt, und sie haben nicht aufgehört, über ihn zu sprechen. Das Mädchen hätte gerne gewußt, warum sie solche Angst hatten. Und wenn man solche Angst hat, warum sagt man dann nichts und geht trotzdem ins Kino? Sie hätte etwas sagen wollen, wußte aber nicht, was. Wenn sie verlangt hätte: Redet mit mir, so wäre das nicht richtig gewesen, denn sie wußte gar nicht, was sie gern gehört hätte. Und sie zu bitten, nicht wegzugehen, wäre auch falsch gewesen, sie wollte ja, daß sie weggingen, bevor ihnen der Aufsatz über die Bachstelzen einfiel. Und natürlich auch, damit Kapitän Léopold d’Auverne erzählen kann, was er erlebt hat, und die Worte »Bug Jeragel« etwas anderes werden, nicht nur ein Klang. Dem freien Sklaven und dem schwarzen König bleiben nur noch ein paar Minuten. Kapitän Léopold d’Auverne sagt: Die Kanonen der Feinde waren die ganze Zeit auf mich gerichtet, aber vielleicht wird die Guillotine mich hinrichten, sie kennt kein Mitleid und tötet jeden Überheblichen. Es ist schwer zu verstehen, sehr schwer. Jemand, der will, daß die Guillotine ihn hinrichtet. Warum will er wohl sterben, ein Mann, der Léopold heißt? Jemand mit so einem Namen muß sein Schwert in einer Ecke des großen Saals mit den Kronleuchtern ablegen, die ihre Eltern »Abat-jour« nennen.
    Doch auch ohne daß sie ein Wort gesagt haben, ohne daß sie etwas erklärt haben, weiß das Mädchen, daß die Angst ihrer Eltern etwas mit Racheli zu tun hat, dem Mädchen, das man in einem Hof in der Raw-Cook-Straße gefunden hat. Tot. Racheli hat draußen gespielt, sie ist nicht im Haus gewesen. Sie ist draußen gewesen und hat von Fremden Bonbons angenommen. Sie selbst muß man nicht hinter einem Eisentor einschließen wie Peter, sie kommt zurecht. Ihre Eltern wissen, daß sie zurechtkommt. Auch diesmal hat ihr Vater, wie damals, als sie sechs Jahre alt gewesen und zum ersten Mal allein geblieben ist, einen dicken roten Apfel für sie hingelegt. Seine braune Hand hat geschickt das scharfe Messer gepackt und hineingeschnitten, so daß der Apfel in zwei schöne, gezahnte Hälften zerfiel. Sie erlaubten ihr, wie beim ersten Mal, den Apfel im Bett zu essen, und gingen weg. Sie hatten Angst, aber sie sind weggegangen.
    Es gibt noch andere Dinge, die schwer zu verstehen sind. Ihre Wörter. Liebe. Sorge. Ihr Bestes. So sagen sie. Und dann gehen sie. Wie soll sie das verstehen? Sie lieben sie so sehr. Die Mutter wollte gar nicht gehen, doch der Vater beharrte darauf. Nicht daß der Ton scharf geworden wäre. Nie unterhalten sich ihre Eltern in scharfem Ton miteinander. Wie ein kleines Kind, sagte die Mutter ohne Zorn, in ihrer Sprache, er kann einfach nie verzichten. Sie preßte die Lippen zusammen, und für einen Moment verschwand ihr schöner, rot angemalter Mund hinter den schwarzen Haaren. Und trotzdem hat sie sich, allerdings mit einer heftigen Kopfbewegung nach rückwärts, den schwarzweißen Schal um die Schultern gelegt, den Schal, zu dem der Name Pepita gehört und der extra aus demselben Stoff gemacht wurde wie das Kostüm, das sie anhatte, über einem Pullover in kräftigem Rosa. Und Schuhe mit dünnen hohen Absätzen, in denen zu gehen sie selbst bestimmt nie lernen wird, denn abends, wenn sie es probiert, kippt sie immer um, und einmal hat sie die Schuhe, die Onkel Awraham aus Italien geschickt hat, sogar kaputtgemacht. Die Verkäuferin im Schuhgeschäft hat gesagt, sie habe einen sehr schmalen Fuß und brauche Schuhe mit einem gewissen Halt. Sie hat sofort gewußt, daß schmale Füße etwas Gutes sind, denn ihre Mutter hat geseufzt und gesagt, ja, ich habe auch sehr schmale Füße.
    Wegen Racheli rufen alle Mütter der Nachbarschaft ihre Töchter abends nach Hause, noch bevor es dunkel wird. Doch sie weiß, daß es nicht derselbe Mann gewesen ist, vielleicht wegen der schmalen Hände und weil er nach dem Buch gefragt hat, das ist etwas anderes als Bonbons. Doch sie darf ihnen auf keinen Fall sagen, daß sie den Unterschied kennt, denn dann werden sie sofort fragen, woher sie das wisse, das könne sie gar nicht wissen, und sie würden sie daran erinnern, daß Eltern alles wissen, Kinder aber nicht. Sie darf ihnen auch nicht sagen, daß es nicht immer gefährlich ist, von jemandem Bonbons anzunehmen. Man kann merken, wo man das darf und wo nicht. Zum Beispiel Jona, die Jemenitin, die bei dem großen Mann mit dem weißen Bart arbeitet. Das ist Salman

Weitere Kostenlose Bücher