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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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anderes sein, kann sich an Orten aufhalten, ohne daß es jemand weiß, kann mit anderen Menschen zusammensein oder sogar ihre Rolle übernehmen, hat das Gefühl, alles zu können. Sie spürt, daß sie ihn verwirrt, und fürchtet, daß er jetzt auch glauben könnte, wie die anderen es manchmal tun, ihre Liebe zum Lesen würde sie auch andere Dinge lehren, zum Beispiel eine ausgezeichnete Schülerin zu sein oder eine gute Tochter, die ihrer Mutter immer hilft, wie dieser Junge Enrico oder der kleine Hans. Sie zwingt sich zu dem lieben Lächeln, das sie für das Zusammentreffen mit fremden Erwachsenen reserviert hat, steckt das Ende ihres Zopfs in den Mund und überlegt, ob sie wirklich so gern liest, nachdem sie dem Fremden mit einem leisen Ja geantwortet hat, denn in diesem Moment ist sie wegen der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkt, und wegen des Vergnügens, das ihr diese besondere Beziehung bereitet, schon gar nicht mehr sicher, ob sie wirklich gerne liest oder ob es ihr um die Anerkennung geht, die sie wegen ihres Lesens bekommt. Da beugt sich der Mann über sie und bewundert ihren schwarzen Mantel.
    Dieser schwarze Wollmantel ist wirklich etwas Einmaliges. Unten am Saum ist er sehr weit, aber an den Hüften anliegend, und ein goldener Knopf verbindet die obere Stoffhülle mit der unteren, und oberhalb der Taille gibt es noch mehr solche Knöpfe bis zu dem weiten Kragen. Als der Winter kam, hat sie Angst gehabt, er könne ihr nicht mehr passen, ihre Mutter hat gesagt, sie sei sehr gewachsen, man müsse den Mantel vielleicht weitergeben. Deshalb hat sie beim Anprobieren auch den Bauch eingezogen und versucht, sich einzureden, daß er ihr immer, immer gehören würde. Der Mann streichelt den Mantelsaum von unten, wie die Nachbarin aus dem zweiten Stock, die manchmal mit drei Fingern den Stoff der Kleider in den Paketen aus Amerika betastet. Schon in diesem Moment wundert sich das Mädchen, wie wenig diese Bewegung zu den blassen, schönen Händen des Mannes paßt und eigentlich von roten, kalten Händen ausgeführt werden muß, wie zum Beispiel denen der Näherin, zu der die Mutter die Kleider zum Ändern bringt. In diesem kurzen Moment, bevor sie versteht, ohne eine Spur von Schrecken, nur erstaunt, denkt sie sogar, er sei vielleicht ein Schneider, denn was haben ihr Mantel und seine Machart mit ihrer Liebe zu Büchern zu tun. All diese Gedanken schießen ihr durch den Kopf, schnell, ohne Worte, nur verschwommene Gefühle, von denen sie erst Jahre später erfährt, daß man sie Intuition nennt, womit man ein Wissen meint, das nicht auf Beweisen beruht. Doch auch jetzt weiß sie schon, daß man ihr nicht glauben wird, wenn sie erzählt, daß ihr die Sache in diesem Moment bereits seltsam vorgekommen ist. Sie weiß, es wäre besser, das niemandem zu erzählen. Doch dann tastet die Hand des Mannes – im Treppenhaus ist kein Mensch außer ihnen beiden, und sie hätte ihm am liebsten gesagt, er solle sich doch beeilen, denn Josef, der Bibliothekar, gibt nach dem Ende der Öffnungszeit niemals ein Buch heraus – unter ihren Mantel und prüft das Kleid. Was für ein Kleid hast du an? fragt der Mann interessiert und vielleicht auch erstaunt, aber auch irgendwie beiläufig, gedankenlos, sie erinnert sich an den Tonfall, aber seine Hand zittert unter dem Wollkleid, und seine Augen – an deren Farbe und Schnitt sie sich später nicht erinnert – leuchten seltsam auf. Und plötzlich weiß sie, was sie zu tun hat. Ohne zu warten, schlägt sie ihm mit dem Buch, das sie in der Hand hält, auf den Arm und schreit ihn an, was er da tue, wartet aber nicht auf seine Antwort, sondern schüttelt seine Hand von sich ab und springt mit einem Satz die Treppe hinunter, wie sie es zu Hause immer tut, vom vierten Stock in den dritten, von dort zum zweiten und zum ersten, und dann springt sie mit einem Satz auch die nächste Treppe hinunter, wobei sie fast über die unterste Stufe gestolpert wäre. Eine Minute später hat sie schon die Anlage des Platzes hinter sich, rennt aber mit aller Kraft weiter, die Straße hinauf, auf der beleuchteten Seite mit den Geschäften, ohne einen Blick ins Schaufenster der Parfümerie zu werfen. Sie schaut sich nicht um, aber sie weiß, daß der Mann noch dort steht, auf der Treppe zum ersten Stock der öffentlichen Bibliothek.
    Sie rennt den ganzen Weg, bis zum vierten Stock hinauf, und erst in der mit bläulichem Neonlicht beleuchteten Küche, neben dem Tisch mit der gelben Resopalplatte, bleibt sie

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