So habe ich es mir nicht vorgestellt
Wehe Stärke hundert, und noch dazu lang, sie ist noch immer nicht vorbei«, staunte er. »Fühlst du sie nicht?«
Frau Mu’alem schüttelte den Kopf und lächelte. »Es tut mir nicht mehr weh«, erklärte sie. »Ich fühle sie, und fühle sie doch nicht, wie im Traum. Ich kann sagen, daß ich eine Wehe habe, aber sie tut nicht weh.« Ihre Augen strahlten. Sie spreizte ihre Hände auf dem Bauch und betrachtete ihre rosafarbenen Fingernägel.
Der Himmel war bereits blaß, die Berge waren noch von einem grauen Nebel bedeckt. Durch den Nebel, zwischen den Wolken hindurch, tauchten schon die Dächer des arabischen Dorfes auf, Rauchsäulen stiegen hoch, deren Ursprung nicht zu erkennen war. »Heute wird es keinen Regen geben«, verkündete Herr Mu’alem. Und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Vielleicht wird es überhaupt nicht mehr regnen, ich habe das Gefühl, wir kriegen Chamsin.«
»Hier spürt man aber nichts«, wunderte sich Frau Mu’alem.
»Hier gibt es eine Klimaanlage«, erklärte ihr Mann und streichelte ihren Arm mit seinen kleinen, feinen Händen. »Alles, wie du willst, Lisi«, sagte er und griff nach dem Pappbecher mit dem Wasser. »Wenn du Wasser willst, sag es nur. Alles, wie du willst. Hauptsache, du fühlst dich gut.«
Jo’ela beobachtete das schnelle Tropfen der Flüssigkeit, zog an dem Schlauch, griff nach dem Rädchen und beschleunigte das Tropfen.
»Sie stellen es stärker«, stellte Frau Mu’alem fest. Und quengelnd fragte sie: »Wann geht es weiter?«
Jo’ela murmelte etwas wie: Es gebe immer noch Dinge, die die Wissenschaft nicht voraussagen könne, hob das Laken an, warf einen Blick zwischen die geöffneten Beine der Frau und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte sie. »Das kann noch eine Weile dauern.« Dann wandte sie sich zur Tür. »Ich komme wieder«, versprach sie.
Die Uhr über der Schwesterntheke zeigte auf sechs. Sie überlegte, daß in einer Stunde die Schicht wechselte. Dann würde Alina die verantwortliche Hebamme sein, und Jo’ela mochte Alina lieber.
»Es tut mir leid, dir zu sagen«, bemerkte Mirjam, als habe sie Jo’elas Gedanken gelesen, »daß das nicht in Ordnung ist, Alina so zu belasten, das ist verantwortungslos.« Ihre dicken Finger umklammerten den Stift und berührten den Stapel Papiere. »Ich wollte es nicht vor den Patientinnen sagen, schließlich muß man darauf achten, daß …« Sie faltete einen Brief, nachdem sie noch einmal einen Blick darauf geworfen hatte, steckte ihn in einen Umschlag und leckte mit ihrer rosafarbenen Zunge über den gummierten Streifen. »Aber es ist nicht in Ordnung, du hast uns zusätzliche Arbeit aufgehalst.« Mirjam schrieb etwas mit runden Buchstaben vorn auf den Umschlag, und Jo’ela unterdrückte die Wut, die in ihr aufstieg und ihre Beine lähmte. Sie wagte es noch nicht einmal, sich umzudrehen und wegzugehen. Zu Margaliot hätte Mirjam das nie zu sagen gewagt. Von ihm hatte sie schon vor Jahren gelernt, Regeln einzuhalten, auch wenn sie ihren eigenen Bedürfnissen zuwiderliefen, zum Beispiel Mirjam den Arm um die Schultern zu legen und katzenfreundlich etwas Beruhigendes zu murmeln. »Ich sage ja gar nichts über deine privaten Fälle, das ist Sache der Klinikleitung, aber dieses Mädchen, das du mir zusätzlich hereingebracht hast, und Doktor Goldmann, der sich hier herumgetrieben und Monika und Claudine abgelenkt hat … Es ist nicht in Ordnung, daß die Privaten besondere Aufmerksamkeit bekommen …«, maulte Mirjam weiter.
Bei diesem unaufhörlichen Lamentieren riß Jo’ela die Geduld. »Und wenn sie nicht privat wäre, wäre sie dann etwa nicht hierhergekommen? Warum bringst du Dinge an, die nicht zur Sache gehören?« Sie fühlte, wie sie rot wurde, ihr Gesicht glühte, und schon mitten in diesem Ausbruch überfiel sie in einem Anfall von Selbsterkenntnis beim Anblick von Mirjams erschrockenem, ängstlichem Gesicht das schlechte Gewissen. Man durfte nicht vergessen, wie schwer die Arbeit in der Klinik war, wie undankbar, vor allem für die Hebammen, die kaum je ein Kompliment bekamen, die Tag um Tag und Nacht um Nacht den Menschen zu Glück verhalfen und dann in die anonyme Berufsrolle zurückgeschoben wurden, wer erinnerte sich denn daran, wie die Hebamme bei der Geburt ausgesehen hatte oder wie sie hieß? Die ganze Frustration verwandelte sich in Momenten wie diesem, wenn es darum ging, ein bestimmtes Verhalten zu rechtfertigen, in Überheblichkeit, Willkür, Despotismus.
»Wo ist dieses Mädchen
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