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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, ihr alle seid naiv. Ihr alle, die ihr nicht die Drecksarbeit machen müßt.«
    Jo’ela schob den Wandschirm zur Seite und stand nun zwischen ihm und dem Bett. Sie wandte sich an die mädchenhafte Schwangere. »Ich werde Ihnen sagen, was wir tun«, sagte sie in den Raum zwischen Bett und Fensterrahmen. »Wir geben Ihnen etwas zum Schlafen, damit Sie Kraft für die Geburt haben. Es lohnt sich nicht, völlig ausgepumpt anzufangen.«
    Mirjam verdrehte die Augen zur Decke, und ihre langen Ohrringe, grün und golden, bewegten sich hin und her.
    »Und wir legen Sie in die Wöchnerinnenstation. Das ist nicht weit von hier, auf der anderen Seite vom Flur. Auf diese Art bekommen Sie ein bißchen Schlaf und brauchen keine Angst zu haben. In Ordnung? Klingt das vernünftig?«
    Die Frau nickte, blieb aber, den Kopf gesenkt, auf dem Bettrand sitzen. Ihre Füße tasteten über den Boden, bis sie die Holzsandalen gefunden hatten. Langsam zog sie ihre Hose zu sich, schob einen Fuß in eine Sandale und steckte ihn dann in ein Hosenbein, dann senkte sie den Kopf und blieb einen Moment zusammengekrümmt sitzen, bis sie den anderen Fuß in das zweite Hosenbein schob, während sie die ganze Zeit darauf achtete, mit ihren Füßen den Linoleumboden vor dem Bett nicht zu berühren. Sie betrachtete ihre Füße, als suche sie nach Schmutzflecken. Der graue Linoleumbelag glänzte wie immer. Jo’ela stand neben dem Wandschirm und lauschte auf das Kratzen von Mirjams Füller, den sie immer an einer Schnur um den Hals hängen hatte und der jetzt über die Seite des großen Journals lief. »Monika wird Sie hinbringen«, sagte Jo’ela und ignorierte das Zuklappen des Journals. Mirjam verließ das Wehenzimmer, um die beiden Frauen hereinzurufen, die draußen warteten. »Erst Sie und dann Sie«, hörte Jo’ela sie den beiden Frauen erklären, die nebeneinander standen. Neben dem großen Fenster stand Herr Mu’alem und schaute hinaus in die Dunkelheit. Sein Gesicht zeigte einen erschrockenen Ausdruck, als er ihre Schritte hörte. Er seufzte. »Sie hat jede Minute starke Wehen«, beschwerte er sich.
    »Sehr gut«, meinte Jo’ela und nahm schnell das Laken weg. »Wunderbar, der Muttermund ist ganz offen«, lobte sie. »Es geht wirklich vorwärts.«
    »Aber noch nicht genug«, sagte Herr Mu’alem anklagend.
    »So habe ich es mir nicht vorgestellt«, sagte Frau Mu’alem um vier Uhr morgens, als die Dunkelheit draußen, vor dem Fenster, immer blasser wurde, zwischen einem Schluchzer und dem nächsten.
    »Ja?« sagte Jo’ela. »Wie haben Sie es sich denn vorgestellt? Was haben Sie gedacht?«
    »Ich weiß es nicht«, bekannte Frau Mu’alem. »Irgendwie … freudiger.«
    »Freudiger?« Jo’ela machte ein erstauntes Gesicht. »Was ist denn nicht freudig? Alles geht wunderbar vorwärts. Was ist da nicht freudig?«
    »Und auch schöner.«
    »Ach so, schöner. Ja. Das kann ich verstehen. Aber auch so liegt viel Schönheit darin. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Eine Geburt ist das Schönste …«
    »So habe ich es mir nicht vorgestellt«, wiederholte Frau Mu’alem hartnäckig. »Es ist nicht wie auf den Fotos mit dem Lächeln und all dem …«
    »Es wird schon noch so wie auf den Fotos«, versprach Jo’ela. »Und schauen Sie doch nur mal aus dem Fenster.«
    »Man sieht nichts«, erklärte Herr Mu’alem.
    »Aber bald wird man etwas sehen, und bald haben Sie ein Baby«, sagte Jo’ela und warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. Eine Weile schwiegen sie alle drei, nur das Echo der Herztöne des Ungeborenen war zu hören, rhythmisch und regelmäßig an- und abschwellend.
    »Ich habe gedacht, es wäre … es wäre ruhiger«, schluchzte Frau Mu’alem. »Nicht so schmerzhaft. Ich habe gedacht, daß … Ich habe mir nicht vorgestellt, daß es so weh tun würde.«
    »Dann schreien Sie doch«, sagte Jo’ela ermutigend. »Haben Sie keine Angst, schreien Sie, wenn es Ihnen hilft.«
    »Was nützt es, wenn ich schreie, die Schmerzen werden davon nicht weniger«, fuhr Frau Mu’alem sie an, als habe sie sich entschlossen, die letzten Reste von Höflichkeit und angemessenem Benehmen über Bord zu werfen, als wolle sie damit sagen: Wenn die Dinge schon nicht so sind, wie sie sein sollten, dann brauche ich mich auch nicht mehr zusammenzureißen, dann ist jede Höflichkeit überflüssig. »Ich halte das nicht aus, diese schreienden Frauen«, sagte sie haßerfüllt, fuhr mit den Fingern durch ihre hellen, wirren

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