So habe ich es mir nicht vorgestellt
Silberblick hatte sie große Ringe.
»Es gibt gewisse Fortschritte«, sagte Jo’ela und drehte sich zu Monika um: »Aber wir können den Anästhesisten rufen.« Monika eilte aus dem Zimmer.
Dreimal fing Frau Mu’alem wieder an zu schreien, mit weit aufgerissenen Augen, wenn eine neue Wehe begann und ihr Körper sich krümmte, ohne daß sie der Aufforderung, während der Wehe zu drücken, nachkam. Sie stieß Jo’elas Hände weg, die ihr auf den Bauch drückten, und heulte laut auf, als Monika zurückkam und Jo’ela zuflüsterte, Doktor Goldmann sei im Operationssaal und könne im Moment nicht kommen, um nachzuspritzen.
»Das glaube ich nicht«, schrie Frau Mu’alem, die alles mitbekommen hatte. »Das kann er mir doch nicht antun!«
»Alisa, hören Sie gut zu«, sagte Jo’ela in dem besonderen Ton, den sie für solche Momente reserviert hatte. »Alisa, hören Sie mich?«
Aber Alisa Mu’alem weigerte sich zuzuhören. Sie richtete sich halb auf, fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft. »Raus mit euch allen!« schrie sie. »Und bringt ihn her! Hört endlich auf, dauernd auf mich einzureden.«
Herr Mu’alem sprang von seinem Stuhl neben dem Bett auf. Er starrte seine Frau an, als verwandle sie sich vor seinen Augen in ein Ungeheuer, zog an seinem Schnurrbart und räusperte sich. »Du auch!« schrie Frau Mu’alem. »Red nicht mit mir!« Er sagte kein Wort. »Und steh nicht so da! Hör doch auf, mich anzustarren!« Er senkte die Augen. »Geh raus! Jetzt gleich! Damit ich deinen bedauernswerten Anblick nicht sehe! Als wärest du es, der hier leidet! Ich bin es, vergiß das nicht, ich!« Sie schlug sich auf die Brust. Er wandte sich zögernd zur Tür. »Wohin gehst du?« schrie seine Frau. »Wohin willst du denn gehen? Wag es ja nicht, mich hier allein zu lassen mit … mit … mit …« Sie brachte kein Wort mehr heraus und fing an zu weinen, bevor es mit dem Schreien wieder losging.
Herr Mu’alem stand an der Tür, während Jo’ela den Sitz der Infusionsnadel und die Tropfgeschwindigkeit kontrollierte. »Was möchtest du denn, daß ich tue, Lisi?« fragte Herr Mu’alem flehend.
»Unternimm was!« verlangte seine Frau. »Bring diesen Arzt her! Hol ihn aus dem Operationssaal! Oder bring einen anderen! Unternimm was! Steh hier nicht so rum, tu doch was!«
Herr Mu’alems Adamsapfel bewegte sich auf und ab, doch er sagte nichts, sondern verließ das Zimmer. Jo’ela sah, wie er zur Schwesterntheke ging und Mirjam, die mit den letzten Eintragungen beschäftigt war, erklärte, er verstehe ja, daß der Arzt im Operationssaal gebraucht würde, aber seine Frau …
»Frau Doktor Goldschmidt, vielleicht können Sie selbst …«, sagte er und blickte Jo’ela erwartungsvoll an.
Mirjam hob den Kopf und warf Jo’ela einen triumphierenden Blick zu. »Es ist jetzt gerade kein Anästhesist frei«, erklärte sie, bevor sie sich mit erstaunlicher Leichtigkeit erhob und verkündete: »Gut, ich bin fertig. Hoffentlich klappt alles bei der nächsten Schicht, viel Erfolg.«
Herr Mu’alem blickte Jo’ela flehentlich an. Sein Gesicht war blaß, sein rechter Mundwinkel leicht verzerrt.
»Da ist nichts zu machen«, sagte Jo’ela. »Wir müssen es so schaffen.«
»Sie leidet so sehr«, sagte Herr Mu’alem kläglich. »Noch nie, in all den Jahren unserer Ehe, habe ich sie so reden gehört. Sie ist eine Frau, die …«
»Es ist bald vorbei, und dann wird sie alles vergessen.«
»Sie wird es nicht vergessen«, versicherte er. »Und ich auch nicht. Wie kann man solche Worte vergessen?«
»Unsinn«, sagte Jo’ela. »Was man in dieser Situation sagt, ist vollkommen bedeutungslos. Wenn Menschen solche Schmerzen haben, wissen sie nicht, was sie sagen, man darf dem wirklich keine Bedeutung zumessen. Sie sind doch beide intelligente Menschen, und Ihre Frau hat schon so viele Stunden Schmerzen und Schlaflosigkeit hinter sich, das ist eine lange Geburt, da kann man nichts machen. Sie ist lang und nicht schwer.«
»Nicht schwer?« fragte er empört.
»Nein«, sagte Jo’ela. »Einstweilen gibt es keine Komplikationen, Gott sei Dank. Nein, man kann nicht sagen, das sei eine schwere Geburt.«
»Und was ist dann in Ihren Augen eine schwere Geburt?« protestierte er.
»Darüber können wir uns unterhalten, wenn alles zu Ende ist«, versprach Jo’ela, »dann erkläre ich Ihnen, was eine schwere Geburt heißt. Dies ist eine lange und bestimmt schmerzhafte Geburt, aber sie ist nicht schwer. Sogar die Lage des Kindes ist
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