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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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vornehmen Damen. Erst da erfuhr Jo’ela, daß Tante Frieda und Onkel Schlojme aus derselben Stadt stammten wie ihre Mutter. »Menschen aus derselben Stadt sind wie Verwandte, sie sind alles, was einem geblieben ist«, erklärte ihre Mutter, als Jo’ela sich darüber beschwerte, daß die verwandtschaftliche Bezeichnung doch nur eine Lüge sei. »Niemand erinnert sich an mich als kleines Mädchen, niemand ist geblieben, der meine Mutter und meinen Vater gekannt hat, außer Tante Frieda und Onkel Schlojme«, fuhr die Mutter fort und wischte sich die Hände an dem Tuch ab, mit dem Jo’ela das Geschirr abtrocknete. »Aber das kannst du nicht verstehen, du hast Menschen, die sich erinnern werden.« Sie stieß einen Seufzer aus, in dem Zufriedenheit darüber lag, daß Jo’ela auf derartige Beziehungen nicht angewiesen sein würde, und zugleich Bitterkeit, weil sie selbst sehr wohl darauf angewiesen war und dafür Tante Friedas fojle schtik und Onkel Schlojmes Armseligkeit aushalten mußte, damit sie bezeugten, daß sie selbst einmal ein kleines Mädchen gewesen war.
    Manchmal, wenn Tante Frieda etwas besonders Wichtiges zeigen wollte, wie zum Beispiel ein Foto, auf dem sie selbst mit einer der Frauen König Abdullahs zu sehen war, in einem Kleid, das Tante Frieda genäht und für das man den Stoff extra über den Libanon aus Paris hergebracht hatte, winkte Tante Frieda Jo’ela mit einer ausladenden Handbewegung neben sich auf den Sessel und ab und zu sogar auf ihre Knie. Von diesem Platz aus konnte Jo’ela die Fältchen am Arm sehen, oberhalb des Ellenbogens, wo das Fleisch zitterte, und ganz aus der Nähe den bitteren Duft des Kölnisch Wassers riechen, vermischt mit dem Geruch nach Naphthalin und Äpfeln, und sie konnte das Glitzern der kleinen roten Steine um den rhombenförmigen Brillanten in Tante Friedas Ring betrachten und sich wieder einmal davon überzeugen, daß Tante Frieda recht hatte mit ihrer Behauptung, der Brillant sei echt, nicht wie die Glassteine in den Ringen von kleinen Mädchen, wegen der Art, wie sich das Licht vielfarbig darin brach, wenn Tante Frieda mit der Hand über die Fotos strich und mit halbgeschlossenen Augen prüfte, ob Jo’ela auch wirklich ihren Erklärungen lauschte, ob sie, wie es von ihr erwartet wurde, auch die versteckten Abnäher bemerkte, die die Illusion einer großen, hohen Büste bewirkten, oder die Aufschläge an den Taschen, auf die Tante Frieda mit knochiger Hand und blutrotem Fingernagel auf dem braunen Bild hinwies. Nur wenn sie im Sessel saß, mit der Wange den Ärmel der weißen Seidenbluse streifte, die Tante Frieda am Schabbat zu tragen pflegte – nur von diesem Platz aus konnte sie auch sehen, wie die Spitze des Mittelfingers der großen Hand manchmal auf dem Gesicht eines Mannes mit Hut innehielt, eines Mannes, der, den Arm um Tante Friedas Schultern gelegt, mit weißen Zähnen lachte. Und wenn Tante Frieda sagte: »Schön wie Tyrone Power«, wurde das Album von Onkel Schlojme, der hinter ihnen stand, auch schon weggenommen, noch bevor sie das Foto der beiden betrachten konnte, wie sie auf ihrem Weg nach Beirut aus dem Zugfenster winkten.
    Einmal, nachdem sie erklärt hatte, wo genau sich ihre erste Einzimmerwohnung in Jerusalem befand, und nachdem sie deren Grundriß auf einem karierten Blatt aufgezeichnet hatte, zog sich Tante Frieda die karierte Schottendecke fester um die Knie, stieß das versilberte Messer in den Apfelkuchen, den Onkel Schlojme gebracht hatte, schob ihren Rollstuhl näher zum Teetisch und sagte: »Ich werde dir den großen Sessel schenken, wenn wir ihn frisch bezogen haben.« Doch beim nächsten Mal erwähnte sie den Sessel nicht mehr. Und einige Monate später erzählte Jo’elas Mutter schon, wie Onkel Schlojme die Hände ausstreckte, um zu verhindern, daß Tante Frieda sich aus ihrem Rollstuhl erhob, zur Tür stolperte, sich mit aller Kraft am Griff festklammerte, um sich schaute und mit flehenden Augen fragte: »Was habe ich gewollt? Was habe ich gesucht? Wo? Wo?« Ein Jahr später, als Tante Frieda im Heim für unheilbar Kranke gestorben war, wußte keiner mehr etwas über den Verbleib des großen Sessels, auch nichts über seinen Zwillingsbruder, der immer in der Ecke des zweiten Zimmers gestanden hatte, es wußte auch niemand, was aus den Stühlen geworden war, auf denen sie und ihre Eltern immer um den Kaffeetisch mit der Glasplatte gesessen hatten. »Es ist schon Jahre her«, seufzte ihre Mutter, »wieso denkst du plötzlich

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