Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
gereinigt und aufgefüllt wurden.
    Im hellen Tageslicht, mitten am Vormittag, stand sie hier wie ein Eindringling und versuchte, ihre Verwirrung zu verbergen. Sogar die Frauen, die an ihr vorbeieilten, senkten die Köpfe, um sie nicht anschauen zu müssen. Eine Hure, schienen sie zu denken, und dabei ist sie noch nicht mal gekommen, um ein Federbett oder antike Möbel zu kaufen. Jo’ela stand da, mitten auf der Me’a-Sche’arim-Straße, nachdem sie, wie von einem Dybbuk gejagt, vor diesem süßen Gefühl geflohen war (konnte man es anders als fliehen nennen?). Sie wollte das Mädchen aus ihren Klauen befreien. Henia Horowitz sollte nicht von der Häßlichkeit angesteckt werden, aus der nichts Gutes oder Vollkommenes wachsen konnte. Denn wenn das Gesicht eines Menschen, seine groben oder zarten Bewegungen, sein Hunger, seine Hemmungen, seine Schwerfälligkeit, die Art, wie er sich gibt, wie er atmet, liebt, ein Ausdruck seiner Seele sind, so ist auch der Ort, an dem er lebt, sind die Straße, das Haus, einfach alles, deutliche Zeichen für etwas Dahinterliegendes, untrügliche Merkmale, die eine verborgene Wahrheit offenbaren. Natürlich hatten sie Erklärungen für alles, an Erklärungen mangelte es ihnen nicht. Sie behängten sogar die graue Betonmauer mit Geistigem, um gegen den Teufel zu kämpfen, den sie in natürlichen Bedürfnissen, Trieben und Begierden sahen. Überhaupt sollte man nicht auf das hören, was Menschen laut sagen, um eine Situation zu erklären, sondern mehr auf das, was sie unbewußt verraten. Die Wahrheit kommt (allerdings in ihrer ganzen Häßlichkeit) ans Licht, wenn man nach ihr sucht. Manchmal birgt sie aber auch etwas Schönes, Unerwartetes. Die Schönheit lag im Wesen des Mädchens, in der Durchsichtigkeit, der Absichtslosigkeit, der Verletzbarkeit. Alles andere hier, die Häßlichkeit, die innere Verlogenheit beschmutzten dieses Wesen. Die Schönheit ist zufällig, unerwartet, denn wenn man sie erwartet, kommt schon der Wille ins Spiel, und im Willen liegt bereits der Samen des Hungers. Und Hunger, der nicht gestillt wird, wächst sich aus zu einem gierigen, häßlichen Etwas, es sei denn, man erstickt ihn mit Wissen und der Erkenntnis der Wahrheit, die alles im nüchternen Licht der Häßlichkeit zeigt. Es war schwer zu verstehen, daß diese Häßlichkeit aus Gott und der Erlösung strömen sollte. Wenn diese Welt wirklich so aussah, ein schmaler Gang, eine schmale, schmutzige Brücke, stinkend nach Schimmel und Hühnern, durfte das Mädchen nicht hierbleiben.
    Jo’ela schaute einem Mann nach, der an ihr vorbeieilte, den Kopf abgewandt unter einem breitkrempigen Schtrejml. Hinter ihm lief mit kleinen Schritten eine Frau mit einer platinblonden Perücke, deren Strähnen im trockenen Wind flatterten. Jo’ela stellte sich neben die Touristen. Jo’el hätte alles anders gesehen. Die wache Neugier in seinen braunen Augen hätte die Straße in seltsames Licht getaucht, sie mit menschlichen, vielleicht sogar fröhlichen Farben überzogen. Wenn sie allerdings jetzt mit ihm hier ginge, Arm in Arm, würde man sie mit Steinen bewerfen. Das tut man mit ehebrecherischen Frauen: man steinigt sie. Aber eine Frau, die Arm in Arm mit einem Mann ging, mußte doch nicht unbedingt eine Ehebrecherin sein.
    Die Frau, an die sich Jo’ela nun wandte, um die Hausnummern in der Awodat-Israel-Gasse herauszufinden, betrachtete sie ohne Scheu, musterte sie von oben bis unten, preßte die Lippen zusammen, zog an ihrem Kleid und sagte schnell: »Hier gibt’s keine Nummern.« Erst als Jo’ela weiterging, rief sie ihr nach: »Frau! Frau!« und erkundigte sich: »Wen suchen Sie hier?«
    Mitten in der Gasse, oberhalb der Treppen, zwischen Papierfetzen, die von einem plötzlichen Windstoß aufgewirbelt wurden, zwischen Obstschalen und Abfall, stand Jo’ela und blickte sich suchend um. Vor ihr war die Treppe, zu beiden Seiten erstreckte sich die Gasse mit ihren kleinen Betonhäuschen, eins ans andere gedrückt, als seien sie aus grauem, nassem Sand errichtet, den Kinder aufgehäuft hatten. Sie stellte sich viele, viele Menschen vor, zusammengepfercht in Höhlen aus erstarrtem Zement, die mit ihren Händen kleine Öffnungen in die Wände kratzten und sie dann schnell mit Gittern versahen, nur um Wäscheleinen zwischen den einzelnen Höhlen spannen zu können.
    Sie betrachtete eine unregelmäßige Treppe mit einem krummen Geländer, die zu dem aus gelblichen Steinen gebauten oberen Stockwerk hinaufführte. Zwischen

Weitere Kostenlose Bücher