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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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den Steinen verliefen breite Streifen aus grauem, grobem Verputz, was den Wänden ein provisorisches, instabiles Aussehen verlieh. Die Wäscheleine hing voll mit Bettwäsche und Kinderkleidern, nur über ihrem Kopf flatterte eine lange, schwarze Seidenunterhose, daneben eine Art Unterhemd, wohl aus Nylon und rot bestickt. Auf dem Treppenabsatz, zu dem sie rasch hinaufgestiegen war, stand ein prächtiger Baum in einer betoneingefaßten Bewässerungsmulde, daneben eine Holzbank mit rissiger Lehne, wie sie früher einmal in der Rothschild-Allee oder in der Nordau-Straße gestanden hatten. Niemand saß darauf. Wenn man neben dem Baum stand, konnte man in die kleinen Fenster der ersten Stockwerke der Häuserreihe sehen. Eine Tür ging auf, eine Frau in einem blauen Kittel, die Haare unter einem Kopftuch verborgen, kam heraus, musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, riß den Mund auf, als wolle sie anfangen zu schimpfen, gähnte aber nur. Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb sie zwischen der Wäscheleine mit der geblümten Bettwäsche und der Haustür stehen, einer Tür, wie sie sie zu Hause auch hatten, innen Stahl und außen dunkelbraun gestrichenes Holz: das konnte sie auch aus dieser Entfernung sehen. Jo’ela stand in der Awodat-Israel-Gasse und wußte nicht, ob sie sich nach links oder nach rechts wenden sollte. Auf dem Computerausdruck der Klinik war zwar die ganze Adresse angegeben, samt Hausnummer – nur in der Spalte für die Telefonnummer war ein Strich: die Familie besaß kein Telefon –, aber sie konnte auf keinem Haus eine Nummer entdecken. Am Geländer der Frau mit dem blauen Kittel war ein grüner Blumenkasten befestigt. Darin wuchsen Geranien, aber als Jo’ela näher trat, sah sie, daß, abgesehen von einigen braunen, vertrockneten Stümpfen, nur noch ein Stengel grün war. Als habe jemand den Versuch gewagt, die Vorherrschaft des Betons und der Wäscheleinen zu brechen, habe gepflanzt und gegossen und dann enttäuscht wieder aufgegeben. Wegen dieser Geranie wagte es Jo’ela, die Frau im blauen Kittel – auch sie trug dicke gerippte Wollstrümpfe in einem hellen Braun, dazu blaue abgetretene Holzschuhe – nach der Familie Horowitz zu fragen. Ein schnelles Zwinkern begleitete die Kopfbewegung der Frau, sie musterte Jo’ela erneut, ihre roten Hände rückten das Kopftuch zurecht, bis sie schließlich sagte: »Ich weiß nicht, fragen Sie dort«, und nach rechts deutete. Vermutlich hieß das, daß sie die Familie kannte, aber beschlossen hatte, Jo’ela verdiene die Auskunft nicht.
    Zwei Häuser von der Frau entfernt blieb Jo’ela vor einer anderen Wäscheleine stehen, vor etwas, was aussah wie eine ganze Reihe weißer Tücher mit je einem großen Loch in der Mitte, doch als sie sich ihre Brillengläser abgewischt hatte, entdeckte sie auch die Fransen an den Rändern. Es waren Gebetsschals der Art, wie fromme Männer sie täglich unter der Kleidung tragen; die Löcher in der Mitte dienen dazu, sie über
    den Kopf zu ziehen. Jo’ela trat in den Zwischenraum zwischen den Gebetsschals und einer rosafarbenen Babydecke neben geblümter Bettwäsche und klopfte an die Tür. »Sie meinen Frumet-Bracha Horowitz?« fragte die Frau, nachdem sie schnell die Tür aufgerissen hatte. »Ich habe gedacht, es wäre der Mann vom Strom. Sie legen keinen Strom?«
    Jo’ela schüttelte den Kopf.
    »Dort«, sagte die Frau, »im zweiten Haus, im Erdgeschoß.«
    Nach dem dritten Klopfen wurde die Tür des Betonhäuschens in einer ganzen Reihe ähnlicher Häuser einen Spaltbreit geöffnet, und der blonde Lockenkopf eines etwa dreijährigen Mädchens schob sich heraus, dann folgte der Körper. Das Mädchen blickte Jo’ela an, steckte einen Finger in den Mund und schob ihn zwischen den Lippen hin und her. Die Kleine trug ein braun-grün kariertes Kleid mit etwas, was einmal ein Spitzenkragen gewesen sein mußte, jetzt aber, durch vieles Waschen und Weitervererben, nur noch ein grauer Stoffstreifen war, außerdem dicke schwarze Wollstrümpfe und durchsichtige Plastiksandalen. Sie schob ihren Finger noch tiefer in den Mund, zwischen zwei Reihen kleiner weißer Zähne. Abgesehen von der Haarfarbe glich sie dem jungen Mädchen überhaupt nicht. Jo’ela lächelte, aber die Kleine fuhr fort, sie mit ihren blauen, durchsichtigen Puppenaugen anzustarren, ohne den Mund zu verziehen.
    »Ist deine Mama daheim?« fragte Jo’ela und knöpfte den obersten Knopf ihres Mantels zu.
    » Marne, Marne «, rief das Mädchen laut und

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