So habe ich es mir nicht vorgestellt
kaute weiter.
»Wo ist Ja’ir?«
»Zu Omer gegangen.«
»Hat Papa angerufen?«
»Nein.«
»Und Ne’ama?«
»Nein. Nur Oma. Du sollst sie zurückrufen.«
Ja’ara hatte ein Buch auf den untergeschlagenen Beinen liegen, zugeklappt, die Finger zwischen den Seiten. Man mußte sich nicht anstrengen, um den Titel zu entziffern.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß man das heute noch liest. An welcher Stelle bist du denn?« Jo’ela hörte selbst, wie falsch ihre Stimme klang, gewollt fröhlich, um sich nicht zu verraten. Der bekannte grüne Einband und die eingravierten Buchstaben, auch wenn man sie nicht las, reichten aus für einen plötzlichen Schmerz. Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie anfangen zu weinen, und Ja’ara würde erschrecken.
»Ich habe nicht gewußt, was ich tun soll«, murmelte Ja’ara. »Das Buch da habe ich in eurem Schrank gefunden. Ich bin schon ganz hinten. Sie ist schwanger.« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger.
»In deinem Alter? Ist das nicht ein bißchen zu früh?« Eine herausfordernde Frage, denn eigentlich sollte sie froh sein. War sie nicht auch immer so früh gewesen?
»In welcher Hinsicht zu früh? Es gibt noch nicht mal Gewaltszenen. Und Sex auch nicht.«
»Aber in deinem Alter ist das doch langweilig.«
»Manchmal überspringe ich was.«
»Es ist kein besonders optimistisches Buch.«
»Einstweilen auch nicht besonders pessimistisch. So geht es eben den Armen in Skandinavien. Wird sie es am Schluß gut haben, diese Kristin Lavranstochter?«
Jo’ela zuckte mit den Schultern. »Ich verrate es dir nicht.«
»Oma hat gesagt, du hättest es tausendmal gelesen, als du so alt warst wie ich.«
»Ja? Das hat sie gesagt? Wann?«
»Heute, als sie angerufen hat und wissen wollte, was ich tue, und ich es gesagt habe. Stimmt das?«
»Keine Ahnung, vielleicht. Warum wunderst du dich?«
»Nur so. Ich habe nicht gewußt, daß du viel gelesen hast. Sie hat mir erzählt, daß man dich nie ohne Buch in der Hand gesehen hat und daß du plötzlich aufgehört hast zu lesen. Ich habe gesagt, daß du auch heute liest, aber sie meint, das wäre etwas anderes, etwas vollkommen anderes, Fachbücher wären nicht dasselbe.«
»Ja«, bestätigte Jo’ela, »das ist etwas vollkommen anderes.«
»Möchtest du das Buch nicht noch einmal lesen?«
»Vielleicht«, sagte Jo’ela, »vielleicht wirklich.« Sie drehte sich um und wollte zur Küche gehen.
»War Oma früher eine schöne Frau?«
Jo’ela blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist das für eine Frage?« erkundigte sie sich überrascht.
»Sie hat gesagt, ich soll dich fragen.« Ja’ara war verwirrt. »Ich habe mich mit ihr unterhalten, wegen der Schule, weil wir doch nach unseren Wurzeln suchen. Ich habe sie gefragt, und sie hat mir Antwort gegeben.«
»Ja, sie war sehr schön«, sagte Jo’ela. »Wenn sie auf der Straße ging, haben sich die Leute nach ihr umgedreht. Und wenn sie in ein Zimmer trat, haben alle … Der Direktor von meiner Schule war in sie verliebt, sie hatte Augen … Sogar der Fischhändler vom Markt hat ihr immer die schönsten Fische gegeben.«
»Du siehst ihr also ähnlich?« wollte Ja’ara wissen.
»Ich glaube nicht«, sagte Jo’ela. »Ich sehe Opa ähnlich, ich habe … ich habe keine Augen wie sie, keinen Mund, der aussieht wie gemalt, keine Backenknochen, wie sie sie hatte.«
»Aber du bist schön!« beharrte Ja’ara und streckte die Beine aus. »Auch meine Freundinnen sagen das. Du bist so groß und so blond.« Und besorgt fügte sie hinzu: »Hast du Minderwertigkeitskomplexe?«
Jo’ela lachte entspannt. »Nein, die habe ich nicht. Aber ich bin bestimmt nicht so schön, wie Oma es war. Allerdings hat sie wohl kein besonderes Vergnügen daran gehabt. In ihren Augen war die Schönheit vermutlich nur dazu da, um zu überleben. Die jugendliche Schönheit als Mittel, kein Wert an sich.«
»Was soll das heißen? Warum?«
»Ich glaube, sie ist überzeugt davon, daß diese Schönheit ihr ein paarmal das Leben gerettet hat. Das hat sie jedenfalls immer gesagt.«
»Wie? Erzähl doch.«
»Die Einzelheiten weiß ich nicht, sie hat es nie wirklich erzählt.«
»Hast du sie nicht danach gefragt?«
»Doch.« Jo’ela seufzte. »Natürlich habe ich sie gefragt, als ich klein war, aber später habe ich sie nicht mehr gefragt, da wußte ich schon, daß man darüber nicht spricht.«
»Was hat das Ganze mit der Schönheit zu tun?« beharrte Ja’ara.
»Sie hat es doch selbst zu dir gesagt. Sie hat
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