So habe ich es mir nicht vorgestellt
war, daß man kaum atmen kann, wenn man einen Tritt in den Bauch bekommt. Plötzlich, bei dieser Sitzung, bei der es eigentlich um Verwaltungsangelegenheiten gehen sollte, wurde ihr klar, wie dünn das Eis ist, über das man geht. Über den Linoleumboden lief eine große, schwarze Ameise.
Sie würde ihn weiterhin jeden Tag sehen müssen. Sie würden weiter zusammenarbeiten. Vielleicht würde es ihm sofort leid tun. Vielleicht würde er ihr die Sache nachher, wenn sie das Zimmer verlassen hatten, erklären können. Vielleicht würde er sich entschuldigen. Wenn er sich jetzt sofort entschuldigte, könnte man die Sache übergehen. Wenn man frei atmen will, muß man das Blickfeld vergrößern. Damit aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Etwas daraus lernen. Man könnte sich zum Beispiel sagen, daß der heutige Tag einer ist, an dem die Wahrheit ans Licht kommt. An dem die Sicht klarer wird. Immer wieder zeigt sich, daß der Mensch anders ist, als er zu sein scheint. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Man müßte diskutieren, warum man sich weigert, die Anzeichen und ihre Bedeutung zu erkennen. Auch bei Jo’el ließ sich aufgrund der Umstände eine gewisse Leichtfertigkeit voraussagen. Und bei Nerja hatte es schon immer etwas gegeben, auch früher, am Anfang, als er Lehrmaterial für die Anatomieprüfung gefunden und nicht weitergegeben hatte. Und als er herausfand, wo man medizinische Instrumente billig bekam, wie man einen Antrag auf Unterstützung formulierte, und es ihr verschwieg. Aber sie hatte vorgezogen, diese Details zu übersehen. Denn ihre Bedeutung zu erkennen hätte geheißen, auch auf andere Dinge verzichten zu müssen. Da war es kein Wunder, daß sie vorgezogen hatte, nichts zu merken.
Eine Studentin schrieb etwas in ein Heft. Die Buchstaben waren groß und rund, aber nicht zu lesen, weil sie zu stark nach rechts geneigt waren. Was schreibt sie denn? Wir können unserem Nächsten vielleicht die eine Tat verzeihen, die uns zwingt, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Nur diese eine. Wenn er sich hätte zurückhalten können. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück, denn nichts wird mehr in Ordnung sein. Aber sie hätte es wissen müssen. Sie wußte es. Blind sein. Wir möchten es so gerne. Bis wir keine Wahl mehr haben. Er hat ein liebes Lächeln, der Student mit dem Lockenkopf. Und dann ist in einer Sekunde alles zerstört. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Vielleicht darf man nie glauben, man sei nicht allein. Denn wenn sie jemand noch vor einer Minute nach Nerja gefragt hätte, hätte sie geantwortet: »Nerja? Er ist ein Freund. Schon seit Jahren.«
Noch nie war ihr Nerja so häßlich vorgekommen wie in diesem Moment, als er im Sitzungszimmer sprach, sogar die Wölbung neben seiner Augenbraue war gerötet. »Manchmal kann man nicht gut sein, ohne böse zu sein«, erklärte er mit einem Blick auf die Studentin mit den glatten schwarzen Haaren.
Margaliot trommelte mit der Spitze seines neuen gelben Bleistifts, mit dem er Notizen aufschrieb und radierte, weiter auf die graue Resopalplatte des Tisches. Noch immer hatte er kein Wort gesagt.
»Hat nicht jeder von uns oft genug vor der Frage gestanden, ob er tun soll, was der Patient will, um was er uns bittet, und dabei gewußt, was in Wahrheit das Beste für ihn ist?« fragte Nerja. Die schwarzhaarige Studentin lächelte ihn mit geschlossenem Mund an. Bemüht.
Sägemehl würgte Jo’ela im Hals. Der Puls unter dem Finger, den sie ans Handgelenk legte, stieg auf tausend. Sie mußte die Hand wieder unters Kinn schieben.
»Ich würde das nicht wirklich einen Fauxpas nennen«, sagte Nerja. »Aber ich hätte sofort bei Beginn der Blutung erwogen, sie in den Operationssaal zu bringen, ich hätte nicht darauf gewartet, daß der Herzschlag schwach wird.«
Vielleicht machte ihm die Sache Spaß. Vielleicht genoß er sie. Und was, wenn er nun immer so bliebe, hochmütig wie ein großer getigerter Kater?
»Wir wissen, daß diese Überlegung nicht richtig ist«, sprach Nerja weiter.
Nicht kotzen. Nicht runterschlucken. Sägemehl. Jo’ela drückte eine Büroklammer zusammen, bog sie wieder auseinander, hielt die Augen nur auf das Stück Metall geheftet. Es war sinnlos zu fragen, warum. Es war auch sinnlos, sein Verhalten damit zu rechtfertigen, daß sie die Dozentenstelle vor ihm bekommen hatte, den Auftrag zur Klimakteriumsforschung, an dem er nicht beteiligt war, er mit seiner schweren Kindheit. Vielleicht hatte sie nicht genug an ihn gedacht. Vielleicht
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