So habe ich es mir nicht vorgestellt
Geburt.« Und Talia Levis Flehen: »Dann operieren Sie mich wenigstens und holen Sie das Kind raus. Ich kann nicht mehr warten.«)
Vielleicht hätte ich stur bleiben sollen, auch bei Frau Horowitz, dachte Jo’ela. Der Mann läßt nicht einmal ihre Epilepsie behandeln. Vielleicht brauchte er das ja, daß sie Anfälle bekommt.
»Nun, du weißt ja, daß wir auch nur Menschen sind«, sagte Nerja und goß ihr ein Glas Malzbier ein. »Aus medizinischer Sicht eine falsche Entscheidung, aber aus menschlicher Sicht kann ich sie verstehen. Man muß auch auf den Menschen achten. Wenn du den Ehemann von der Frau heute nacht gehört hättest! Ich kann dir sagen!«
»Warum hat man dich eigentlich in der Nacht gerufen?«
»Gebärmutterhalskrebs, im Endstadium. Sie mußte in ein Hospiz verlegt werden.«
»Nichts mehr zu machen?«
»Nein, nichts.« Er nahm etwas Rotkraut auf die Gabel. »Du wärest gestorben, wenn du sie gesehen hättest. Alles in allem haben wir nicht soviel mit dem Tod zu tun, verhältnismäßig, meine ich.«
»Eine junge Frau?«
»Zweiunddreißig, zwei Kinder. Das jüngste ein Jahr alt.«
»Hat man bei der Geburt denn nichts festgestellt?«
»Das war nicht bei uns«, sagte er beruhigend. »Sie hat ihr Kind nicht bei uns bekommen. Ich glaube, in einer anderen Stadt, aber ich erinnere mich nicht. Übrigens, ich halte das da für Tütensuppe. Ich wollte nur sagen, daß uns einiges erspart bleibt.« Er blickte auf seine Uhr. »Komm, wir müssen zur Sitzung. Margaliot ist schon zurück.«
Es war wie Sägemehl in der Luft, wie unsichtbares, trockenes Sägemehl, das einen zu ersticken drohte, wenn man den Mund nicht zumachte. Und daß die Fenster geschlossen waren und das Neonlicht brannte, war auch kaum auszuhalten. Man mußte das Kinn auf die Hand stützen, damit niemand das Zittern des Halses bemerkte. Wie oft waren sie schon zu hören gewesen, diese billigen Beleidigungen, die vagen Andeutungen, die man beiseite schob, auf die man nicht reagierte, wenn man selbst nicht getroffen war, wenn man selbst nicht ihr Opfer wurde. Auch wenn man wußte, daß er so war, hoffte man, daß er sich einem selbst zuliebe Mühe gab und sich anders verhielt. Am besten war es, den Kopf zu senken, um das Gesicht des Verräters im Moment des Verrats nicht ansehen zu müssen. Man bekäme vielleicht die Krätze, wenn man ihn jetzt anschaute. Wie gut wäre es, wenn man ihn durch einen Blick erschüttern könnte, aber er war nicht zu erschüttern. Wohin mit der Scham?
»Vielleicht war Jo’ela auch nur müde«, sagte Nerja mit einem kleinen Lächeln und Falten neben den Augen. Braune Haare, mit Grau durchzogen, und über dem Bauch drohte ein Knopf abzuplatzen. »Das muß man berücksichtigen, schließlich werden auch wir manchmal müde.«
Jemand tippte im Dreivierteltakt auf die Tischplatte. Margaliot, der früher als erwartet zurückgekommen war, mit der Nachricht, daß der Spender abgesprungen sei und man das Projekt verschieben müsse. Der Inkubator würde nicht rechtzeitig eintreffen, hatte er in entschuldigendem Ton zu Nerja gesagt, der als Leiter der neuen Abteilung vorgesehen war. Und als er aufgehört hatte zu sprechen, hatte er wieder angefangen, mit der Bleistiftspitze auf die Tischplatte zu klopfen. Jeder einzelne Ton zerrte an Jo’elas Nerven. Sie wartete auf die Pause.
»Ich will jetzt nicht von der Steißlage reden, das braucht man wirklich nicht zu untersuchen, und bei einer vorzeitigen Plazentalösung – wenn sie über siebzig Prozent ausmacht, wie Jo’ela gesagt hat – kann man nicht viel machen, aber …« Nerja lehnte sich im Stuhl zurück, so daß der Knopf wirklich fast absprang, rieb sich mit den Händen die Stirn, fuhr sich über die Falten zwischen den Augen, spannte die Wangen und fuhr fort: »Aber wenn das Kind schon tot ist, warum muß man da operieren? Aus medizinischer Sicht ist das eine falsche Entscheidung, meiner Meinung nach.« Er warf Margaliot, der mit geneigtem Kopf zuhörte, einen entschuldigenden Blick zu.
Man durfte jetzt nichts sagen. Er war ihr nichts schuldig. Vor einer halben Stunde hast du anders gesprochen. Niemand hat dich darum gebeten. Du hast es von dir aus getan. Das alles konnte man nicht sagen, wenn man um den langen, rechteckigen Tisch saß, zusammen mit vier Ärzten, zwei Praktikanten und drei Studenten. Was sollen die zwei Praktikanten, die drei Studenten, die vier Ärzte, die fast Oberärzte waren, und Margaliot denken? Aber das war nicht das Problem. Das Problem
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