So habe ich es mir nicht vorgestellt
gesagt, daß es in deinem Alter keine Rolle spielt, was du anziehst, du siehst sowieso schön aus. Weil du jung bist. Später, wenn man älter wird, das heißt, wenn Frauen älter werden, gibt es keinen anderen Weg zu überleben.« Sie dachte laut nach. »Einerseits hat sie der körperlichen Schönheit eine enorme Bedeutung zugemessen, andererseits denke ich, wie schuldig sie sich fühlen mußte, weil sie als einzige ihrer Familie überlebt hat. Dieses Schuldgefühl, wegen ihrer Schönheit überlebt zu haben, ließ ihr auch keinen Raum, sich daran zu freuen. Wie hätte sie sich denn an ihrer Schönheit freuen sollen?«
Ja’ara ließ schweigend eine Hand über das Sofa gleiten und folgte der Bewegung mit den Augen. »Bei dir ist es was ganz anderes«, sagte sie schließlich. In ihrer Stimme lag so etwas wie Hoffnung.
»Bei mir ist es ein bißchen anders«, sagte Jo’ela. »Ich lebe in Frieden mit meinem Spiegel. Vielleicht war es ein großes Glück, daß ich mich nie für schön gehalten habe. Ich habe nichts zu verlieren. Trotzdem ist es mir natürlich angenehm, daß du mich für eine gutaussehende Frau hältst. Deine Oma glaubt, daß eine Frau alles verliert, wenn sie alt wird, ihre ganze Welt. Als hätte sie nichts außer ihrer Schönheit.«
»Ich denke das aber nicht«, sagte Ja’ara.
»Bei dir ist es wirklich etwas anderes, du kannst dich einfach daran freuen, wie du aussiehst«, versicherte Jo’ela.
Ja’ara verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Uns geht es von Generation zu Generation besser«, sagte ihre Mutter lächelnd und ging zur Küche.
»Schula hat dir Essen aufgehoben«, rief Ja’ara ihr nach.
Neben der Spüle standen Frikadellen in Tomatensoße, grüne Bohnen und ein Topf mit Gemüsesuppe. Jo’ela steckte eine Gabel in eine Frikadelle, tauchte sie in die Soße und biß ein kleines Stück ab. Sie hätte nicht sagen können, daß es ihr nicht schmeckte, aber sie war unfähig weiterzuessen. Ohne zu zögern, warf sie die Frikadelle in den Abfalleimer. Jo’ela! Was tust du da! sagte ihre Mutter erschrocken. Ist es nicht schade drum?
»Es ist schade um die Toten«, murmelte Jo’ela und betrachtete den gelben Mond hinter dem Fenster. »Und es ist schade um die Lebenden«, sagte sie, als ihr Blick auf den Kalender fiel. Der Tag der Schoah. Wieder hatte sie ihn vergessen. Mit langsamen Bewegungen füllte sie die Reste des Essens, das Schula aufgehoben hatte, aus den Töpfen in Plastikdosen und legte sie ins Gefrierfach. Dann stand sie einige Minuten vor der Spüle und blickte hinaus auf den Mond, der von Abend zu Abend runder wurde, um dann wieder abzunehmen.
8. Pnina
Schon ihr ganzes Leben lang bereitete sich Pnina auf den Zeitpunkt vor, an dem die Ordnung der Welt zerstört würde. Immer dachte sie dabei an einen Krieg oder eine schwere Krankheit. Auf eine große Katastrophe war sie also vorbereitet, nicht aber auf die kleinen Störungen, die niemandem etwas ausmachten außer ihr. Wie zum Beispiel darauf, daß die rumänischen Schwestern plötzlich verschwunden waren und sie hilflos zurückgelassen hatten. Das war vor einem Jahr gewesen, als sie an einem verregneten Wintermorgen zu dem Kurzwarenladen in der Allenbystraße fuhr, neben dem Markt, und plötzlich, statt vor dem Geschäft, vor einer Pizzeria stand. Über dreißig Jahre war sie, mit einmal Umsteigen, zu diesem Laden gefahren, um Knöpfe und Garn zu kaufen, Bänder und Spitzen für Jo’elas Kleider, oder Satinstoffe für Kostüme, die sie ihr zu Purim nähte, und plötzlich war der Laden verschwunden, ohne Ankündigung. Verschwunden war auch der Arm mit den Lochhandschuhen, der im Schaufenster gelegen hatte, verschwunden waren die gestickten Tischdecken, direkt neben dem Arm in einer Ecke aufgestapelt, und die Stoffpuppe mit dem roten Pilz, gespickt mit Steck- und Nähnadeln, von dem dicke Wollfäden herunterhingen. Erst ein Monat war vergangen, seit sie das letzte Mal hiergewesen war.
Vielleicht war die Abwesenheit des Fischverkäufers schuld, daß ihr die Einkaufskörbe schwerer vorkamen als sonst. Verloren wartete sie am Autobus und dachte nicht daran, die Fahrkarte herauszusuchen. Im Autobus stand sie neben dem Fahrer, die Körbe zwischen den Füßen, und wühlte erst in ihrer großen Handtasche, dann in der Tasche ihres Kleides und fand die Fahrkarte schließlich in ihrem Geldbeutel. In der Kurve wäre sie fast umgefallen. Ihre Bewegungen waren langsamer als sonst, und nur mit Mühe sammelte sie das Obst
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