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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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lautlos vom Inlandplateau aufs Schelf. Die gewundene, faltige Oberfläche der Gletscherzunge schob sich auf eine Vorgebirgserhebung namens Mount Christchurch zu; unterhalb davon stand ein aus dem ewig gefrorenen Material, das man in dieser Region humorig Antarktisstahl nannte, errichtetes Gebäude.
    »Das ist der Justiz-Eispalast«, sagte Gila, zeigte auf den Bau. Bei dem Justizpalast handelte es sich um ein erhaben-protziges Bauwerk, dessen diverse Schnörkel – vorspringende Wehrgänge auf den Mauern, Türme voller Flachreliefs und pompös verzierte Tore – ganz so aussahen, als tarnten sie, ähnlich wie Zuckerguß an einem Hexenhaus, einen finsteren Zweck. »Ihr neues Zuhause.«
    »Ich bin zuversichtlich der Hoffnung, demnächst den Südpol zu sehen«, sagte George.
    »Hier ist es viel interessanter als am Südpol«, behauptete Dimitri.
    »Ich muß hin.«
    »Der eigentliche Südpol ist über achthundert Kilometer entfernt. Angesichts des Mangels an öffentlichen Verkehrsmitteln und der Tatsache, daß es unsere Absicht ist, Sie aufzuhängen, müssen Sie wohl mit dem Eispalast der Justiz zufrieden sein.«
    Der Konvoi schlitterte in den Innenhof. Dimitri drehte den Zündschlüssel; der Motor spotzte und ging aus. Gila zerrte George ins eisige Freie, der Wind riß Nägel aus Eis von den Mauern des Eispalasts-Gerichtsgebäudes und blies sie herab, um damit Georges Montur zu spicken. Auch hier schwenkten Demonstranten ihre Schilder und schwangen gefrorene Eier. George und seine Mithäftlinge fanden sich zu einem einsamen Grüppchen Frierender zusammen. Wengernook trug eine düstere Miene zur Schau. Randstable drückte sein magnetisches Reiseschachspiel an die Brust. Overwhite untersuchte seinen Hals auf Kehlkopftumoren. Pastor Sparren sprach mit Gott. Nicht einmal der weite Stoff seiner ARES-Montur konnte verhindern, daß Henker krankhaft untergewichtig aussah.
    Auch hier hielten Polizeibeamte Demonstranten zurück. Wütende Zurufe und Aufstampfen mit Fahnenstangen brachten den Untergrund ins Beben. KEINE GNADE FÜR DIE MÖRDER DES MENSCHENGESCHLECHTS. Dieses Transparent hatte George bisher nicht gesehen. ROTTET DIE AUSROTTER AUS. Das auch nicht. Er verspürte den Wunsch, endlich seine Aussage machen zu dürfen; er wünschte es sich dringlich, aber gleichzeitig fürchtete er sich davor. Jeder hätte den Abgabevertrag unterschrieben.
    Ein kleiner, aber urgesteinhafter Mann mit einer Ausfertigung der McMurdo-Sund-Konvention in der Hand trat vor. Das Emblem auf seiner ARES-Montur wies ihn als Hauptmann des Antarktischen Gardekorps aus, und auf dem Namensschild stand JUAN RAMOS. Schweigen ergab sich, als ob in einem Konzertsaal die Lichter ausgingen.
    Gesprächsfetzen erreichten Georges Gehör.
    »…Menschen, die am Ende der Welt schuld sind«, sagte ein Mann.
    »Böse Menschen?« fragte ein Bub.
    »Müssen sie ja wohl sein«, antwortete der Mann.
    »Vater…?«
    »Ja, mein Sohn?«
    »Wie lang dauert’s noch, bis wir sterben?«
    »Zwei Monate.«
    »Ist das lang?«
    »O ja, Junge. Sehr lang. Sehr, sehr lang. Sei jetzt still.«
    »In meiner Eigenschaft als Direktor der Antarktischen Nationalen Sonderstrafanstalt«, ergriff Juan Ramos das Wort, »habe ich als erstes die Pflicht, Ihnen Artikel sechzehn der Charta des Internationalen Militär- und Ziviltribunals bekanntzugeben.«
    »Strafanstalt?« wiederholte Henker barsch. »Das Wort gefällt mir ganz und gar nicht«, schnauzte er. »Für die Behandlung Kriegsgefangener gibt’s auf der Welt Regeln.«
    Jemand warf einen mit Robbenkot gefüllten ARES-Montur-Handschuh. Das Wurfgeschoß traf Henkers Helm und platzte.
    »›Artikel sechzehn: Vorkehrungen zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens gegen die Beklagten.‹« Beiderseits der Oberlippe Juan Ramos’ standen die Zipfel seines Schnurrbarts ab wie die Hinterbeine einer Tarantel. »›Abschnitt A. Die Anklageschrift muß die gegen die Beklagten erhobenen Anschuldigungen im einzelnen aufführen, und jedem Beklagten ist ein Exemplar der Anklageschrift in einer ihm geläufigen Sprache auszuhändigen.‹« Anmutig zogen Möwen und Raubmöwen ihre Kreise um den Eispalast. »›Abschnitt B. Jeder Beklagte hat das Recht, dem Gericht während des Verfahrens selbst oder durch seinen Verteidiger Beweise und Beweismaterial zu seiner Verteidigung beizubringen.‹« Ramos stieg auf eine eins fünfzig hohe, verharschte Schneewehe. Der Wind zauste seinen Schnurrbart; es schien, als müßten die Haare fortwehen.

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